Vor 25 Jahren war der Damals-noch-nicht-Ähämann auf Exkursion in Teneriffa.
(Das ist so lange her, dass ich ihm damals Briefe ins Hotel schickte. Und die sogar pünktlich ankamen.)
Seitdem wollte er mit uns nochmal hinfahren. Nicht zum Am-Pool-Liegen, sondern zum Wandern. Je länger wir in Finnland wohnten, desto mehr kam noch die Sehnsucht nach Sonne und Wärme in der in diesen Breitengraden unangenehmsten Jahreszeit dazu. Aber lange Zeit wäre es zu kompliziert gewesen: allein, drei Kindersitze zum Mietauto zu bekommen! Und ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, mit kleinen Kindern sieben Stunden im Flugzeug zu sitzen!
25 Jahre später haben wir es endlich geschafft.
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Jede Reise beginnt auf dem Meer.
Man kann natürlich auch aus Finnland nach Teneriffa fliegen. Sogar von Turku aus. Direkt.
Es ist aber unverhältnismässig teuer, wenn man nur den Flug braucht, weil man nicht so auf All-inclusive-Hotelurlaub mit Animation am Pool steht.
Von Stockholm zu fliegen war auch deswegen praktisch, weil das Fräulein Maus ja noch eine Nachfeier auf einer Schwedenfähre hatte und wir sonst noch einen Tag später weggekommen wären. (Und wir haben ja nur eine Woche Skiferien.) So fuhren der Ähämann, das Fräulein Maus und Václav mit Silja Line voraus – Václav deswegen, weil Silja Line nicht mehr nach Stockholm reinfährt, sondern nur ins fast eine Autostunde entfernte Kapellskär – und die Herren Maus und ich zwei Stunden später mit Viking Line hinterher.
Am Viking-Terminal in Stockholm trafen wir uns am Sonntagmorgen in aller Herrgottsfrühe wieder. Immerhin sind wir jetzt schon wieder so weit über den Berg, dass es halb sieben schon hell wurde.
Das Auto dabeizuhaben war auch deswegen praktisch, weil wir alle dicken Klamotten einfach mit Václav im ein halbes Jahr im Voraus gebuchten und deshalb gar nicht so teuren Parkhaus am Flughafen lassen konnten und nicht wie letztes Jahr mitschleppen mussten. Das half uns sehr bei der Gepäckminimierung, denn wir flogen nur mit Handgepäck.
Nach vier Stunden Rumhockerei im Terminal wurde es dann genau deswegen noch hektisch: es war nämlich nicht genug Platz für Handgepäck im Flugzeug. Der grosse Herr Maus und ich erklärten uns freiwillig bereit, unsere Rucksäcke doch noch in den Frachtraum laden zu lassen, was aber sehr hastiges und deshalb leider unvollständiges Umpacken fünf Minuten vor Boarding nach sich zog. (Flugreisen, ey! So komfortabel…!)
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Vier Monate in einer Nacht.
Nach fünf Stunden Flug nach Madrid (langweilig), weiteren dreieinhalb Stunden Flug nach Teneriffa (noch langweiliger, weil dunkel), sowie einer halben Stunde Autofahrt („Guck mal die Palmen!“, „Da steht ein Drachenbaum auf dem Kreisverkehr!“, „Santa Ursula, hihi!“, „Guck mal, wie hoch der Mond steht!“) waren wir um Mitternacht – nach unserer inneren Uhr allerdings schon um zwei Uhr morgens – endlich in unsere Betten gefallen.
Als wir gegen acht halbwegs ausgeschlafen aufwachten, ging gerade erst die Sonne auf. Nebenan krähte ein Hahn, die Spitze des Teide leuchtete in der Sonne, das Meer hatte sich noch in Nebel gehüllt. Der Ähämann und der kleine Herr Maus fuhren Frühstück einkaufen, und als wir kurze Zeit darauf auf der Dachterrasse sassen und frühstückten, war auf einmal Sommer. Hach!
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ExotischeEinheimische Vegetation.
Da wir alle noch party- und anreisemüde waren, begannen wir den Urlaub mit einem Besuch im Botanischen Garten.
„Haben die hier gar keine Gewächshäuser?!“ fragte der kleine Herr Maus verwundert. Kurze Pause. „Ach so. Ja. Das kann hier ja alles draussen wachsen.“
Alle diese Gewächse, die wir als kleine Zimmerpflanzen kennen, nicht nur im Botanischen Garten, sondern auch am Strassenrand, auf Kreisverkehren und in den Bergen wachsen zu sehen, war eines der tollsten Dinge in Teneriffa!
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Anbaden und -wandern.
Nachdem wir ausgiebig exotische Pflanzen bestaunt hatten, kam der Wunsch nach einem Strand auf. Wir fanden einen, zu dem man sogar zwei Kilometer hinwandernspazieren konnte. Der Weg führte zunächst durch Bananenplantagen, die für mich ihre Faszination bis zum Urlaubsende nicht verloren. Die Blätter der Bananenstauden rascheln im Wind wie Plastetüten, und je älter sie werden, desto zerfetzter sind sie vom Wind. Unter den Stauden scharren Hühner, und wenn irgendwo ein Hahn kräht, ist eine Bananenplantage nicht weit.
Zum Strand mussten wir tief hinuntersteigen. Sein Sand war kohlschwarz und die Wellen so riesig, dass man nicht schwimmen, sondern nur bis maximal zu den Knien in der Brandung stehen und sich von den anrollenden Wellen umwerfen lassen konnte. Die Bademeister pfiffen alle paar Minuten Leute, die sich zu weit hinausgewagt hatten, zurück. Immer wenn eine besonders grosse Welle auf die Felsen weiter draussen traf, donnerte es wie bei einem mittelweit entfernten Gewitter. Es war grossartig.
Erst als die Sonne hinter der Steilküste verschwand, machten wir uns auf den Heimweg.
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Wandern mit Aussicht.
Am zweiten Urlaubstag fuhren wir ins Anaga-Gebirge. Wir wollten im Lorbeerwald, mit dem der oft feuchte und neblige, um die 1000 m hohe Kamm des Gebirges bewachsen ist, wandern gehen.
Wir hatten keinen wirklichen Plan, also holten wir uns zuerst im Besucherzentrum eine Wanderkarte und liessen uns zum Wanderweg Nummer 10 raten, der vom Kamm des Gebirges bis hinunter ans Meer führt, den man aber auch als Rundweg gehen kann, wenn man „nur“ 500 Höhenmeter absteigt und über einen Schlenker durchs nächste Dorf wieder zum Ausgangspunkt zurück aufsteigt.
Es war einer der schönsten Wanderwege, den ich je gegangen bin. Am Anfang führte er durch einen Wald, der sich auch in Mittelerde befinden könnte, dann auf einem schmalen Pfad immer an einem Berghang entlang wie der Lieblingswanderweg in Jena, auch durch zwei an die Berge geklebte bunte Dörfer. Immer mit Aussicht, fast immer auf schmalen Pfaden, und die kurzen Strecken, die man auf der Strasse laufen musste, waren nicht nervig, sondern erholsam für die Füsse.
Das einzig Doofe war, dass wir eigentlich keine so grosse Wanderung geplant hatten, nicht genug Proviant dabei hatten und beide (!) am Weg liegenden Restaurants geschlossen waren. Es war trotz knurrender Mägen und am Ende etwas zittriger Beine sehr toll.
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In den Mond die Sonne gucken.
Auf diesen Urlaubstag hatten wir uns am meisten gefreut: wir fuhren zum Teide, dem die Insel dominierenden gewaltigen Vulkan, hinauf. Es sieht von unten nicht weit aus, aber man braucht fast eine Stunde: die Strasse windet sich 40 km lang in engen Serpentinen den Hang hinauf.
Leider zwei Drittel davon durch verbrannte Kiefernwälder – die Folge der verheerenden Waldbrände im letzten Jahr. Aber die Natur lässt sich nicht unterkriegen: die ersten verkohlten Bäume haben schon wieder lange, grüne Nadelbüschel ausgetrieben.
Um zehn hatten wir uns für eine Führung im Teide-Observatorium angemeldet. Dort wird nicht nur der Sternhimmel beobachtet, sondern auch die Sonne, und wir konnten sogar selbst durch ein Teleskop Sonnenflecken und – eruptionen angucken. Voll toll!
Hinten guckt Gran Canaria aus den Wolken raus.
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Plan B.
Vom Observatorium fuhren wir zur Talstation der Seilbahn, die fast bis auf den Gipfel des Teide führt.
Zum Glück hatte mir die deutsche Kollegin irgendwann, als wir über unsere Skiferienpläne sprachen, gesagt, dass man die Seilbahn vorher buchen muss. (Das war, als der Ähämann da war, noch anders.) Leider erfuhren wir erst bei der Buchung, dass man eine (kostenlose) Genehmigung beantragen kann, bis zum Kraterrand des Teide aufzusteigen. (Das war, als der Ähämann da war, ebenfalls noch anders. Da durfte man überhaupt nicht.)
So war zwar in unserer Urlaubswoche noch eine Seilbahnfahrt verfügbar, aber die nächste Aufstiegsgenehmigung hätte es im April gegeben. Ausserdem darf man, wenn man mit der Seilbahn hoch und runter fährt, nur eine Dreiviertelstunde oben bleiben. Da haben wir ja gerade erstmal angefangen mit gucken!
Wir hatten dann sehr schnell einen besseren Plan: wir fahren mit der Seilbahn hoch und laufen runter. Darauf hatten wir uns wochenlang vorgefreut. Leider hatten wir uns bei der Buchung zielsicher den Tag der Woche mit dem stärksten Sturm ausgesucht, und die Seilbahn fuhr deshalb den ganzen Tag überhaupt nicht.
Grosse Enttäuschung bei allen. Schnell fassten wir Plan B: wir stiegen vom Parkplatz aus auf dem Weg, den wir eigentlich heruntergekommen wären, auf den Montaña Blanca und machten auf dem Abstieg noch einen Schlenker durch ein Tal zwischen zwei Vulkanen.
Es gibt nicht viel faszinierenderes auf der Welt als Vulkanlandschaften! ♥
Sieht ganz nah aus, wären aber immer noch 1000 Höhenmeter aufzusteigen gewesen.
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Über den Wolken.
Auf der Hochebene rund um um den Teide gibt es an 300 Tagen im Jahr keine Wolken. Die Wolken hängen der Insel auf halber Höhe wie ein Wattekranz um den Kopf.
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Ruhetag.
Nach den zwei Wandertouren, die dann doch sehr viel anstrengender gewesen waren als der eigentliche Plan vorgesehen hatte, brauchten wir einen Ruhetag.
Wir fingen mit Wäscheaufhängen und Monopolyspielen auf der Dachterrasse an, dann fuhren wir den grössten Drachenbaum der Welt angucken (ein ganz kleines bisschen imposanter ist als unsere kümmerlichen Büropflanzen), wir assen in einem sehr netten, völlig untouristischen Grillrestaurant unter Bananenstauden und Drachenbäumen, wir gingen wieder nicht schwimmen, weil die gigantischen Wellen uns aus dem natürlichen Badebecken herausgespült hätten, stattdessen fuhren wir nach Puerto de la Cruz und assen sehr leckere Eisbecher.
Weil danach noch keine*r heimwollte, machten wir noch einen kleinen Spaziergang durch den Ort. Es gibt: „Inges deutschen Bücherstand“, das „Deutsche Ärztehaus“, eine Anwaltskanzlei, die Werbung dafür macht, auf Deutsch behilflich zu sein. Es gibt ausserdem Hotelburgen mit Poolanlagen wie allüberall auf der Welt, Restaurants mit Tischchen auf der Terrasse, an denen Menschen sitzen, ihr Essen fotografieren und dieses orange Gesöff schlürfen wie allüberall auf der Welt, Souvenirhöllen, die den gleichen Ramsch anbieten wie allüberall auf der Welt (aber keine teneriffische oder wenigstens eine spanische Flagge für den kleinen Herrn Maus). Ich hatte akute Fluchtreflexe.
(Da waren wir noch nicht im Süden der Insel gewesen. Schlimmer geht immer.)
Als ich später die getrocknete Wäsche von der Dachterrasse holte, dabei die Grillen zirpten, von irgendwoher ein Hund bellte, der grosse Herr Maus mitteilte, in der Küche lebe ein Gecko, ein Auto hupend um unsere Hausecke gefahren kam und vom flutlichtbeleuchteten Stadion nebenan gedämpfte Jubelrufe herüberwehten, ging’s wieder.
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Bergsteigen zwischen Sukkulenten.
Nach dem Ruhetag schnürten wir noch einmal die Wanderstiefel. Wir fuhren an die Südküste der Insel und stiegen auf den Roque del Conde. Bergsteigen ist ja immer toll, aber das allertollste waren die exotischen Gewächse am Wegesrand!
Wobei das, was wie ein schlangenförmiger Kaktus aussieht, die Kanaren-Wolfsmilch ist und das, was wie ein kleiner Drachenbaum aussieht, die Oleanderblättrige Kleinie. Beides endemische Arten auf den Kanaren, d.h. es gibt sie ausschliesslich dort, wohingegen die Feigenkakteen eine eingeschleppte Art sind, die bzw. deren Bekämpfung noch viele Probleme machen wird.
Der Abstieg – wenn man nicht auf dem gleichen Weg zurück gehen möchte – ist ein bisschen schwer zu finden, war aber besonders toll: man muss sogar ein bisschen klettern.
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Routenplanung auf Vulkaninsel.
Für die Heimfahrt hatten wir die Wahl zwischen linksrum (1 h 27 min), rechtsrum (1 h 21 min) oder obendrüber (1 h 41 min). Es war keine Frage: obendrüber natürlich!
(40 km Serpentinen hoch, 40 km Serpentinen wieder runter.)
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Autofahren mit Aussicht.
Am letzten Urlaubstag kam noch einmal der Wunsch nach Strand auf. Weil auf der Nordseite das Wetter ein bisschen unbeständig war, fuhren wir auf die Südseite. Es dauerte ein bisschen, bis wir da waren, denn in Santa Cruz gerieten wir in einen Bauernprotest, bei dem nicht nur Traktoren durch die Stadt gefahren, sondern auch Kühe durch die Strassen getrieben wurden.
Weil die dem Teenageralter entwachsenen Familienmitglieder Strand eher langweilig finden, nahmen wir hinterher wenigstens den abenteuerlichsten Heimweg: über das Anaga-Gebirge mit seinem märchenhaften Lorbeerwald.
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Ferienwohnung mit Aussicht.
Letztes Terrassenabendbrot.
(Eine Woche ist einfach viel zu kurz.)
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Heimwärts.
Der Urlaub nahm ein jähes Ende, denn wir mussten schon um 4:30 Uhr aufstehen, um rechtzeitig am Flughafen zu sein.
Dafür flogen wir erste Klasse, weil der Ähämann sich geweigert hatte, die horrenden Preise für eine Platzreservierung im Voraus zu bezahlen. Wir erhaschten einen letzten Blick auf den Teide auf Augenhöhe, sahen den Sonnenaufgang über den Wolken und kamen in den Genuss eines Rundflugs über Barcelona. Wenn wir nur nicht so müde gewesen wären!
Auf dem zweiten Flug wurden wir ein bisschen zappelig, denn die Zeit, um in Stockholm vom Flughafen zum Hafen zu kommen, war extrem knapp bemessen. (Ich hatte meine Arbeitskolleg*innen schon darauf vorbereitet, dass sie den Laden Hort am Montag eventuell ohne mich schmeissen müssten, und sie hätten das zweifelsohne gut hingekriegt, es wäre mir aber extrem unangenehm gewesen.) Die Hoffnung, ein bisschen eher starten zu können, löste sich in Luft auf, als noch Leute zwecks besserer Austarierung des Flugzeugs umgesetzt werden mussten. (Das haben wir zum letzten Mal erlebt, als der Ähämann und ich 1998 meine beste Studienfreundin während ihres Austauschjahrs in Manchester besuchten und auf dem Rückflug ausser uns nur 10 Leute in einem Flugzeug mit 120 Plätzen sassen.) Rückenwind gab’s auch nicht. Wir sahen den Sonnenuntergang über den Wolken und flogen eine Ehrenrunde über ein glitzernd erleuchtetes Stockholm. Wenn wir nur nicht so müde gewesen wären! Und es nicht so eilig gehabt hätten!
18:40 Uhr setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf. Genau 60 Minuten später würde der Auto-Check-in am Hafen schliessen.
Wir sprangen, kaum dass das Flugzeug am Gate zum Stehen gekommen war, auf, rissen unsere Rucksäcke aus den Gepäckfächern, entschuldigten uns bei den Mitpassagier*innen wegen grosser Eile („Kein Problem! Ihr müsst wohl einen Anschlussflug schaffen?“ „Nein, ein Schiff.“ „Oh!“), rannten an allen vorbei aus dem Flugzeug, rannten aus der Nase, liessen uns am Gate-Ausgang kurz von einem Zollhund beschnüffeln, rannten aus dem Terminal ins Parkhaus, schmissen die Rucksäcke in Václavs Kofferraum, fuhren 30 km Autobahn, fuhren eine Strasse mit vielen Ampeln entlang, fuhren durch einen Tunnel, fuhren über eine Brücke, schafften es ohne Verfahren über die Mega-Baustelle an der goldenen Brücke und waren um genau 19:33 Uhr am Auto-Check-in am Hafen. Puh! Noch nie war ich so froh, auf diesem Schiff zu sein!
Nach einem spontanen, ausgiebigen Buffet-Abendbrot – ich hatte den ganzen Tag ausser einem Muffin in Barcelona auf dem Flughafen nichts gegessen und bei den anderen sah es auch nicht viel besser aus – während dem sich die „Glory“ in angenehmer Langsamkeit aus Stockholm herausgeschoben hatte, fielen wir in unsere Betten.
Irgendwann nachts wurde ich kurz wach; das Nebelhorn, mit dem die „Glory“ damals bei ihrer Ankunft alles zum Vibrieren gebracht hatte, tutete, und Eisschollen polterten gegen den Schiffsrumpf. Ich zog mir die Decke zurecht, kuschelte mich an den Ähämann und fühlte mich so geborgen und gemütlich wie lange nicht mehr. Bevor ich wieder einschlief, dachte ich: Was für eine tolle Reise – aber die Seele kommt beim Fliegen tatsächlich nicht hinterher.