Suomalainen Päiväkirja

Live aus Turku


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Ostern 2023

Über der ganzen autofreien Herumreiserei der letzten ein, zwei, drei Ferien hatten wir fast vergessen, dass sich unsere Vorräte an Bier in Flaschen, Honig in Gläsern, Butter mit Geschmack, nicht-laktosefreiem Käse, Rhabarberlimo und Britakuchen bedrohlich dem Ende zuneigten. Und so durfte Václav über Ostern seine allererste Reise mit uns antreten und wir taten, was wir immer tun, wenn die Zahl der freien Tage gering ist, aber wir das Beste draus machen wollen: wir fuhren nach Südosten.

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Gründonnerstag.

Jede Reise beginnt auf dem Meer.

Es ist immer noch jedes Mal schön, aber ein bisschen wie Stadtbusfahren inzwischen. Wir sind mittlerweile so routiniert, dass ich diesmal, während am Ende der Überfahrt der Rest der Familie zum Autodeck geht, das Schiff durch das Fussgängerterminal verlasse, weil ich so garantiert in fünf Minuten am in einer halben Stunde schliessenden Supermarkt neben dem Hafen bin, um die wichtigsten Dinge für das Frühstück am nächsten Morgen zu besorgen – während man nie weiss, ob es fünf oder zwanzig Minuten dauert, bis man mit dem Auto vom Schiff kommt. (Den Frühstücksbedarf von zu Hause mitnehmen ist keine Option, wenn man von kulinarischer Wüste ins Schlaraffenland fährt.)

Nach weiteren anderthalb Stunden Fahrt kommen wir kurz vor Mitternacht im südestnischen Pärnu an, der Schlüssel – wir waren schon zweimal (1, 2 ) da – steckt. Unsere Vermieterin hat uns den Kamin angeheizt, und ich denke mit Schaudern an diverse Ferienwohnungen im Erzgebirge, die bei unserer Ankunft eiskalt gewesen und erst nach mehreren Tagen Durchheizen einigermassen warm geworden waren.

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Karfreitag.

Ausschlafen, gemütliches Mökkileben, Mittagessen im Sonnenschein am Strand, anschliessendes dreistündiges Planschen im Lieblingsspassbad. (Was den grossen Herrn Maus nicht davon abhält, abends nochmal die Sauna im Mökki anzuheizen. Was muss, das muss.)

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Karsamstag.

Es geschehen noch Zeichen und Wunder: eine fast vollkommen leere Via Baltica!

Wir wollen nach Riga, weil der leckere Apfelblütenhonig vom Honigstand in den Rigaer Markthallen alle ist, lettisches Bier noch besser schmeckt als estnisches, und weil… Riga eben. ♥

Mit einem Elektroauto tun sich ganz neue Perspektiven und Parkmöglichkeiten auf: wir ergattern – denn die Parkplätze an den Ladestationen in der Innenstadt, die der Ähämann ausgesucht hat, sind nicht ausschliesslich für Elektroautos reserviert, sondern dürfen als normaler, kostenpflichtiger Parkplatz genutzt werden – einen Ladeplatz an einer (Langsam)ladestation, an der wir einfach die nächsten sechs Stunden stehenbleiben können und nicht einmal Parkgebühren zahlen müssen. (Das Laden kostet insgesamt 11,80 € und reicht für die Rückfahrt, einen Ausflug ins Moor am nächsten und die Rückreise bis Tallinn am übernächsten Tag.)

Sechs Stunden Riga:

Nach einem ausgedehnten Supermarkteinkauf an der Ausfallstrasse – der kleine Herr Maus freut sich, dass Kassierer Sergej jede Flasche Bier und jeden Quarkriegel einzeln über den Scanner zieht und der Kassenzettel am Ende einen knappen Meter lang ist – treten wir die Rückfahrt an. Nicht ohne in Nordlettland nochmal eine kurze Pause am Strand einzulegen, weil der Himmel gerade so schön aussieht. Der grosse Herr Maus nimmt ein spontanes Abendbad. Der Sommer ist nicht mehr weit, wenn der Himmel abends halb zehn noch in solchen Farben leuchtet!

Übrigens: in Lettland gibt es Zebras mit Giraffenhälsen.

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Ostersonntag.

Osterfrühstück. (Das mit dem Schlaraffenland erwähnte ich schon, ja?!)

Anschliessend Osterspaziergang im Moor. (Das Kind, dem sowas öfter passiert, muss nach dem Versuch, die Dicke der Torfschicht am Grund eines der zahlreichen Moorseen zu messen, am Schopf aus selbigem gezogen werden. Zum Glück ist es einigermassen warm, denn Ersatzklamotten fahren wir schon seit ein paar Jahren nicht mehr mit uns herum.)

Wollgras, wenn’s blüht.

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Ostermontag.

Es sollte gesetzlich verboten sein, an einem Feiertag die Heimreise antreten zu müssen!

(Nein, wir haben keine Osterferien.)


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„Ski“ferien 2023

Urlaubsplanung mit Kindern.

Ob wir in den Skiferien mal wohin fahren könnten, wo es warm ist. Mal woandershin als ins Baltikum.

Der Ähämann recherchierte, bis wohin wir mit dem Zug in einer Woche hin und zurück kämen und sagte: „Wir könnten zum Beispiel nach Lyon fahren. Oder nach Zagreb. Oder wir könnten nach Lissabon fliegen.“ (Da war er schon mal auf Tagung, hat aber damals nicht viel von der Stadt gesehen.)

„Ja, fliegen!“, leuchteten drei Paar Kinderaugen, vor allem die des kleinen Herrn Maus, der sich gar nicht mehr an seinen letzten Flug erinnern konnte, weil wir vor zehn Jahren das letzte Mal alle gemeinsam geflogen sind.

Vier Wochen vor Ferienbeginn hatten wir ein Reiseziel.

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Jede Reise beginnt auf dem Meer.

Sogar für Flugreisen wohnen wir, wie die Finnen zu sagen pflegen, hinter Gottes Rücken: von Stockholm zu fliegen kostet nur halb so viel wie von Helsinki, und so begann auch diese Reise, wie alle unsere Reisen beginnen: mit einer Fährüberfahrt.

In Stockholm war echtes Beschisswetter, und so zitterten wir uns nicht nur früh halb sieben vom Hafen zum ersten geöffneten Café, sondern auch von einem sehr ausgedehnten zweiten Frühstück über einen spontanen Regenjackenkauf für den schon wieder gewachsenen grossen Herrn Maus sowie ein ausgedehntes Mittagessen zum Bahnhof, von wo wir mit Pendeltåg und Bus zum Flughafen fuhren. Brrrrr.

Nach immer noch vier Stunden bis zum Abflug und weiteren vier äusserst langweiligen Stunden Flug durch die Nacht – wenigstens hatte ich ein gutes Händchen bei der Buchauswahl für die Reise gehabt – wurden wir endlich für die Bibberei entschädigt: in Lissabon war es nachts um elf noch so warm, dass wir nicht nur Mützen und Handschuhe, sondern auch sämtliche Jacken direkt in die Rucksäcke stopfen konnten. Sogar über dem Kerosingeruch des Flughafens roch es ganz deutlich nach Sommer, und als wir eine halbe Stunde später der Metro entstiegen, fühlte es sich wirklich nach Sommernacht an. Hach.

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Ferienwohnung mit Aussicht. Und Infrastruktur.

Halb eins – nach unserer inneren Uhr bereits halb drei – hatten wir endlich im Bett gelegen. Als wir ziemlich ausgeschlafen aufwachten, war es erst um neun: Zeitverschiebung ist manchmal gar nicht so schlecht. Dann zog ich die Rollläden im Schlafzimmer hoch, und mein Blick fiel als erstes auf vier Bäume voller Zitronen und Apfelsinen im Hinterhof. Völlig unwirklich.

Auf der anderen Seite guckten wir auf eine sehr breite Strasse mit sehr tollem Radweg und Fusswegen, die kilometerlang mit Mustern aus weissen und schwarzen Pflastersteinen versehen waren.

An dieser sehr belebten, aber völlig touristenfreien Strasse reihte sich Minimarkt an Obstladen an Frisör an Haushaltswarenladen an Café an Waschsalon an Bäckerei an Kebabstand. Der Ähämann ging uns jeden Morgen Frühstück kaufen und erstmal im Café nebenan einen Espresso trinken, jeden Abend suchten wir, bevor wir heimwankten, den kleinen Supermarkt auf und den Obsthändler, der die Namen der Früchte auf Chinesisch in den Kassencomputer tippte. Unter der Strasse fuhr die Metro; die nahmen wir, wenn wir Grösseres vorhatten oder fusslahm waren, aber meistens liefen wir, weil es bis ins Stadtzentrum auch  nur einen reichlichen Kilometer war.

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65 300 Schritte.

Apropos laufen. Lissabon ist nicht nur die perfekte Stadt für Leute, die gern laufen, sondern vor allem für Leute, die gern bergsteigen. Wir liefen treppauf und treppab – der kleine Herr Maus allerdings ging schnell dazu über, treppab die Geländer herunterzurutschen – hügelauf und hügelab, enge Gässchen hoch und wieder runter, von Metrostationen zu Strassenbahnhaltestellen, und, seit wir am zweiten Tag da gewesen waren, fortan jeden Abend noch auf unseren Lieblingsaussichtsplatz.

Das Allerseltsamste war, durch eine Stadt zu laufen, wo im Februar bei frühsommerlichen Temperaturen Palmen, Bananenstauden, Apfelsinenbäume voller reifer Früchte, Araukarien und andere immergrüne Bäume neben noch kahlen, blätterabwerfenden Baumarten stehen.

Ich lief vier Tage lang mit der Flora-incognita-App in der Hand rum und hielt die Kamera auf rosa Blüten, handtellergrosse Blätter und seltsam gemusterte Baumstämme.

Ein Florettseidenbaum. Möchte kein Eichhörnchen drauf, auf den.

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Fliesenliebe.

Als wir im Studium auf Exkursion in Tunesien waren, habe ich mich in die bunten Fliesen verliebt, die dort an jeder Strassenecke verkauft wurden. Man kann sich also vorstellen, dass ich in Lissabon vier Tage lang vor Freude gequietscht habe.

(„Billiger und einfacher zu beschaffen als Ziegel“ , das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen…!)

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Öffentlicher Nahverkehr.

Lissabon ist so eine Art Paradies für Leute, die Schienenfahrzeuge mögen.

Es gibt keine App für den Nahverkehr, aber man kann an den Fahrkartenautomaten in den Metrostationen für 50 cent eine Karte erwerben, die man beliebig oft mit Einzelfahrten oder 24-Stunden-Tickets aufladen kann. Das billigste 24-Stunden-Ticket kostet 6,60 € und gilt für sämtliche Strassenbahnen, Standseilbahnen, Aufzüge und die Metro, das teuerste kostet 10,70 € und gilt zusätzlich auch noch für die Fähren und den Pendelzug, mit dem man zum Beispiel ins 30 km entfernte Cascais an den Strand fahren kann. Ein Schnäppchen, vor allem, wenn man bedenkt, dass allein einmal mit einem Schrägaufzug hoch und wieder runter fahren 3,80 €, also den Preis von zwei Einzeltickets, kostet. (Oder wenn man auf der vorherigen Reise in Venedig war und die Preise für ein 24-Stunden-Vaporetto-Ticket kennt.)

Die Lissabonner Metro ist wie jede Metro sehr toll, aber superlaut. Man versteht in den Stationen, wenn eine einfährt, sein eigenes Wort nicht mehr und in den Waggons die Ansagen nicht; da, wo wir wohnten, befand sich auf beiden Strassenseiten ein grosser Belüftungsschacht, wenn da gerade eine Metro untendrunter langfuhr, dachten wir, in der Nähe startet ein Flugzeug. Vielleicht liegt es daran, dass sie nur einen Tunnel statt zwei getrennter hat und es darin besonders laut schallt, und die Siemens-Waggons aus den 1990ern erschienen mir auch weitaus rumpeliger als die sowjetischen Modelle aus den 1970ern, die bis heute in osteuropäischen Haupstädten fahren. Wir benutzten die Metro jedenfalls ausgiebig, um schnell von A nach B kreuz und quer durch die Stadt zu gelangen.

Weil Lissabon auf hohe Hügel gebaut ist, gibt es mehrere Schrägaufzüge. Sie fahren im Prinzip ganz normale Strassen entlang, die Zugseile und Rollen sind unter der Strasse versenkt, so dass auch Autos und Fussgänger auf der Bahnstrecke fahren und laufen können. Genial.

Die Aufzüge sind unter Touristen unterschiedlich beliebt bekannt. Am ersten mussten wir eine ganze Weile anstehen. Mit dem zweiten wollten wir spontan runter und wieder hoch fahren, aber als wir unten die Warteschlange sahen, beschlossen wir, es mit dem Runterfahren gutsein zu lassen und einfach wieder hoch zu laufen.

Der dritte, hatte ich gelesen, sei am wenigsten touristisch. Ich hatte so meine Zweifel, als wir durch unheimliche Menschenmassen, eine Strasse entlang, an der sich Souvenirladen an Souvenirladen und internationale Klamottenkette an internationale Klamottenkette reihte, in die Richtung liefen. Aber 100 m vor der Haltestelle waren plötzlich alle Leute um uns rum verschwunden, und zehn Minuten später fuhr der Aufzug für sieben Passagiere, uns eingeschlossen, nach oben.

Ausserdem gibt es einen Fahrstuhl zwischen Unter- und Oberstadt, den man ebenfalls mit einer normalen Nahverkehrsfahrkarte benutzen kann. Pro-Tipp: von oben nach unten fahren. Unten standen 200 Leute an, oben fünf.

Die berühmten gelben Strassenbahnen lösten bei mir einen akuten Anfall von Sentimentalitis aus: in meiner Geburtsstadt hatte es bis 1988 noch auf einigen Strecken ein ganz ähnliches Modell gegeben, mit Holzsitzen und funzeligen Lampen, das knarzend und quietschend über die alten Schmalspurschienen holperte, und ich habe „die Rumpel“, wie sie genannt wurde, als Kind sehr geliebt.

In Lissabon haben die Strassenbahnen ausserdem eine besonders schöne Streckenführung, vor allem die beiden Linien, die hügelauf, hügelab durch die engen Gassen von Graça und Alfama rumpeln. Statt mit der 28, die in jedem Reiseführer erwähnt wird, sollte man allerdings lieber mit der 12 fahren: an der Anfangshaltestelle der 28 hatte sich eine 100 m lange doppelte, bisweilen auch drei- oder vierfache, Warteschlange gebildet, während an der gleichen Haltestelle nicht mehr als zehn Leute mit uns in die 12 stiegen.

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Atlantikwellen.

Teile der Familie hatten sich – wenn schon „Ski“ferien im Süden, dann richtig! – einen Ausflug an den Strand gewünscht, und so setzten wir uns am letzten Tag in einen Zug und anschliessend noch in einen Bus und fuhren zum Strand.

Leider hatte uns inzwischen das Beschisswetter aus Stockholm eingeholt. Andererseits sorgte der starke Wind für tolle Wellen, die sogar dem kleinen Herrn Maus so viel Respekt einflössten, dass er freiwillig nicht weiter als bis zu den Knien ins Wasser ging. Und unsere Vitamin-D-Speicher waren hinterher sicher auch erstmal wieder voll, ganz ohne Tabletten.

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Zurück in den Winter.

Andere Sprachen, andere Namen. Oder: Wo ich schon immer mal hinwollte. ;-)

Der Rückflug war nicht ganz so langweilig, weil er immerhin zum grössten Teil im Hellen stattfand. Wir sahen Schnee in Spanien – „Mama, was ist das? Das sieht aus, als hätte da jemand Mehl hingestreut“ – und die Ausläufer der Pyrenäen und die Kinder guckten mit offenen Mündern Flugzeugen hinterher, die uns entgegenkamen oder kreuzten. (Vor uns sass eine schwedische Familie – Mutter, Vater, vielleicht sechsjähriges Kind – sie hatten den ganzen Flug über das Rollo an ihrem Fenster runtergezogen und das Kind guckte vier Stunden lang irgendwelche Animationsfilme auf dem Tablet. Ja, kann man machen. Muss man aber zum Glück nicht.)

Nachdem wir mit anderthalb Stunden Verspätung in Stockholm gelandet waren, passierte dann noch Folgendes:

(Reisetagebuchillustration vom grossen Herrn Maus.)

Irgendwann mache ich mal eine Liste der lustigsten Ansagen, und neben „Wir müssen ein Rohr wechseln“ und „Weisst du, wo der Zug ist?!“ wird diese auch dabei sein.

Zum Glück hatten wir es nicht eilig, denn Fliegen, ich wiederhole mich, ist überhaupt nicht schnell, denn es besteht hauptsätzlich aus Herumsitzen und Warten.

Wir wären gern wieder mit der Fähre zurück nach Turku gefahren, aber die Abendfähre hätten wir nicht geschafft und die Morgenfähre hätte noch eine Übernachtung in Stockholm bedeutet, und so begaben wir uns für weitere zwei Stunden Warterei an das entfernteste Gate des Flughafens, vor dem das zu dem Zeitpunkt vermutlich kleinste Flugzeug auf dem ganzen Flughafen im Finstern stand und darauf wartete, uns später in nur 40 Minuten nach Turku zu bringen. Immerhin hatten wir während der Wartezeit beste Sicht auf die Startbahn – wir sahen unter anderem, wie unser Flugzeug zurück nach Lissabon flog, ein riesiger Airbus nach Addis Abeba startete und ein DHL-Flugzeug nach Leipzig – und guckten zu, wie mehrere grosse Flugzeuge über den Flughafen rangiert wurden, wie Einkaufswagen auf dem Supermarktparkplatz.

0:10 Uhr landeten wir in einem tiefverschneiten Turku und schlitterten in unseren Turnschuhen über das vereiste Rollfeld zum Terminal. Die Dreiviertelstunde Wartezeit, bis auch das Flugzeug aus Helsinki und das aus Riga eingetroffen waren und der letzte Stadtbus abfuhr, vertrieb uns der kleine Herr Maus mit einem kleinen Klavierkonzert.

Halb zwei stiegen wir am Markt in die Nachtbuslinie, die in unseren Stadtteil fährt, um zwei waren wir zu Hause. Zwölf Stunden später stiegen der Ähämann und ich an der Lieblingsloipe auf unsere Skier.


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Zwischen den Jahren (2)

Plan B.

Eigentlich wollten wir ja dieses Jahr über Silvester wieder ins blaue rote Mökki fahren, weil es letztes Jahr um die Zeit in Lappland so traumhaft schön war. Leider ist das blaue rote Mökki vermutlich schon wieder abgebrannt, und als man uns im Februar mitteilte, dass wir nicht ins blaue rote Mökki fahren könnten, war für Silvester schon nichts anderes mehr zu einem halbwegs akzeptablen Preis buchbar.

Und naja. Fuhren wir eben statt nach Lappland nach Tallinn. Da ist auch das Essen besser.

Weil wir, als wir Plan B fassten, noch damit rechneten, dass Václav nicht vor nächstem Sommer bei uns eintreffen würde, beschlossen wir ausserdem, die Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bestreiten. (Die Ticketpreise der finnischen Bahn und die Benzinpreise hierzulande sind im Moment so, dass es tatsächlich sogar für fünf Personen billiger ist, mit dem Zug statt dem eigenen Auto zu fahren. Das kann bittedanke so bleiben.) Ohne Auto kann man zwar keine Grosseinkäufe machen, aber mit dem Zug zu reisen ist auf jeden Fall angenehmer. Gerade die Autobahn nach Helsinki hängt mir echt zum Hals raus.

Und das neue Fährterminal im Helsinkier Westhafen ist auch viel angenehmer zum Warten als das eigene Auto.

Im Tallinner Hafen liegt die „Isabella“, die Zwillingsschwester der „Amorella“, die lange Zeit zwischen Turku und Stockholm fuhr und jetzt schon seit einem Dreivierteljahr bis zu 1800 ukrainische Geflüchtete beherbergt.

Neulich las ich, dass das kleine Estland sehr schnell sehr viele Möglichkeiten geschaffen hat, um aus der Ukraine Geflüchtete aufzunehmen, aber wenig Möglichkeiten hat, sie dauerhaft aufzunehmen und zu integrieren, weswegen jetzt Finnland Hilfe angeboten hat, aber noch unklar ist, wieviele der Geflüchteten willens sind, nochmal in ein anderes Land umzuziehen (zumal eins, das kulturell nochmal zwei Welten von ihrem eigenen entfernt ist). Man kann es sich nicht ausdenken.

Ukraine.

Generell scheint die Solidarität mit der Ukraine umso stärker zu sein, je mehr sich ein Land historisch mit der Situation dort identifizieren kann.

Sehr schön ist das zum Beispiel an der Menge an Protestplakaten und Ähnlichem vor russischen Botschaften zu sehen: allein vorm russischen Generalkonsulat in Turku gibt es mehr davon als vor der russischen Botschaft in Berlin, und in Tallinn war die ganze Strasse vor der russischen Botschaft voller Plakate, Kerzen, Stofftiere, Flaggen und Blumen.

Sogar das estnische Regierungsgebäude (!) war blaugelb angestrahlt.

Hansehäuser und Pflastersteine.

Im Osten ist mehr Glitter.

Museumsliebe.

Passenderweise kam auch in Tallinn am Tag vor Silvester die Warmfront mit Sturm, Regen und Tauwetter, und wir verbrachten Stunden in Museen.

Zuerst im Strommuseum, wohin die Kinder seit Jahren gewollt hatten. Es befindet sich in einem ehemaligen Elektrizitätswerk, und man kann da sehr viele alte Generatoren angucken und alles mögliche (auch Dinge, die nichts unbedingt mit Elektrizität zu tun haben) ausprobieren. Sehr nett, aber ich hätte mir, wie das sonst eigentlich in estnischen Museen üblich ist, bessere Erklärungen zu den einzelnen Exponaten und Versuchen gewünscht.

Silvester begannen wir im Seefahrtsmuseum. Allein schon die Ausstellungshalle – der Hangar eines ehemaligen Wasserflugzeughafens – ist super beeindruckend.

Neben Bojen und anderen Seezeichen, historischen Booten, einer kleinen Sonderausstellung über die Herstellung von Schiffsmodellen und einer über die Tragödie von Juminda – seit wir das Baltikum bereisen, habe ich das Gefühl, Geschichte noch einmal völlig neu lernen zu müssen – sowie vielen Stationen, an denen man selbst etwas ausprobieren kann, ist dort auch ein echtes U-Boot ausgestellt.

Nun ist ein U-Boot so ziemlich das Gruseligste, das ich mir vorstellen kann, und es hat mich wirklich Überwindung gekostet, durch die enge Torpedoluke in die „Lembit“ hineinzuklettern, aber es war auch wirklich beeindruckend.

Leider war das der Tag, an dem ich befürchtete, mal wieder mit E111 ein estnisches Krankenhaus aufsuchen zu müssen.  Ich war nicht nur immer noch fürchterlich kaputt, sondern mir tat von den Zähnen über die Wangenknochen bis zur Stirn alles verdächtig weh – die Silvestersauna mit viel Dampf hat’s dann aber offensichtlich gerichtet – so dass ich es zum Schluss gerade noch geschafft habe, mich einmal durch alle Räume des historischen Eisbrechers, der draussen vor dem Museum im Hafen liegt, zu schleppen, bevor ich wirklich nicht mehr konnte.

(Man hätte sicher noch ein, zwei Stunden mehr dort zubringen können.)

Ferienwohnung mit Aussicht.

Ferienwohnung mit Aussicht (2).

Neujahrsspaziergang.

Unser Neujahrsspaziergang führte uns von der Linnahall, einem dieser grössenwahnsinnigen sozialistischen Prestigeobjekte, die jetzt vor sich hinrotten, durch den Hafen und über die in den letzten Jahren sehr hübsch gestaltete Strandpromenade, die wir bisher immer nur vom Auto aus bewundert haben, bis zum Strand auf der anderen Seite der Hafenbucht.

Perfektes Timing.

Während wir wegwaren, waren hier 6 Grad (plus!) und Regen. Als wir am Abend des 2. Januar wieder in Turku eintrafen – und Gott sei Dank noch fast eine Woche Ferien vor uns hatten! – schaukelten riesige Schneeflocken vom Himmel.


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Mit dem Zug nach Venedig (9): Berlin-Stockholm-Turku

Und dann begann der letzte Teil der Reise, der uns unweigerlich zurückbringen würde in den Norden, den Herbst, den Alltag.

Über den Berliner Hauptbahnhof bin ich übrigens noch zu keiner abschliessenden Meinung gekommen.

Dieser letzte Teil der Zugreise aber war ganz sicher der erholsamste.

Der Snälltåget ist ein privates schwedisches Unternehmen, weswegen er nur an solchen Tagen fährt, an denen er mit hoher Wahrscheinlichkeiten ausgelastet ist, und die Fahrkarten immer erst recht kurzfristig buchbar sind. Der Ähämann hatte im Spätsommer mehrere Wochen lang immer wieder über den Buchungsseiten gesessen, weil wir hofften, doch noch mit dem Snälltåget fahren zu können, weil der direkt ab Berlin fährt und nicht wie der Euronight der Schwedischen Bahn ab Hamburg, was für uns nochmal umsteigen zu müssen, weniger Zeit in Berlin zu haben und wieder erst um Mitternacht ins Bett zu kommen bedeutet hätte.

Zum Glück (!) war der Plan aufgegangen, und so setzten wir uns erstmal gemütlich hin und verspeisten das im Bahnhofssupermarkt zusammengekaufte Abendbrot, dann klappten wir die Betten runter und bezogen Decken und Kopfkissen – das muss man im Liegewagen selbst machen, dafür sind die Liegeabteile grösser und wir konnten alle zusammen in einem reisen – dann gingen wir Zähneputzen und aufs Klo, zogen uns die Schlafanzüge an und lagen in Hamburg schon im Bett.

Apropos Betten. Der Snälltåget ist ein echter Retrozug: mit ehemaligen Liegewagen der Deutschen Bahn, und von Berlin bis Padborg wurde er von einer 112 gezogen. Dafür gab es viermal so viele und doppelt so moderne Lademöglichkeiten wie im ICE4 (wo sich tatsächlich im Jahr 2022 noch zwei Passagiere eine Steckdose teilen müssen und zwei von drei Steckdosen kaputt waren).

Ich wurde zufällig wach, als wir über die Rendsburger Hochbrücke fuhren, und fand es trotz der mitternächtlichen Dunkelheit wieder sehr faszinierend, so hoch über den Strassenlaternen und den letzten noch beleuchteten Wohnzimmerfenstern dahinzugleiten.

Zweimal pro Waggon hingen übrigens Sicherheitshinweise aus,  auf denen genauestens erklärt wurde, wie man im Notfall alle längeren Brücken und Tunnel, durch die der Zug zwischen Berlin und Stockholm fährt – die Rendsburger Hochbrücke, der Tunnel und die Brücke über den Grossen Belt, der Tunnel und die Brücke über den Öresund – verlassen kann. Ausser natürlich, dass die Rendsburger Hochbrücke „nur mit Hilfe von Rettungskräften verlassen werden kann“. Zum Glück leide ich nicht unter Höhenangst.

Um eins hämmerte der dänische Grenzschutz an die Tür. (Schengen wäre theoretisch eine feine Sache!) Es mussten diesmal keine Kinder geweckt werden, dafür fragte der Grenzbeamte, nachdem er sich gründlich unsere finnischen (!) Pässe angeguckt hatte: „Ihr seid eine Familie? Ihr reist nach Schweden? Ihr macht da Urlaub?“ Das war fast so schön wie 2020, als der dänische Grenzschutz direkt hinter der Fähre aus Island gestanden hatte, um die – damals coronabedingte – Passkontrolle durchzuführen und gefragt hatte: „Wo kommen Sie her?“

Die dänische Mitleserin und die deutschen Dänemarkliebhaber*innen mögen mir verzeihen, aber ich halte Dänemark für kein erstrebenswertes Reiseland.

Das nächste Mal wurden wir früh um sieben geweckt, als der Zug in Malmö einlief und wie auf der „Nils Dacke“ minutenlange Ankündigungen in drei verschiedenen Sprachen durchgesagt wurden. Die Kinder und ich nutzten die Gelegenheit, um gemeinsam zur Toilette zu gehen und gleichzeitig ein bisschen frische Luft zu schnappen. (Fast kam sowas wieTranssib-Feeling auf, als wir im Schlafanzug bei weit geöffneten Zugtüren quasi auf dem Bahnsteig standen.) Dann legten wir uns wieder hin, und als ich um zehn endgültig aufwachte, war ich trotz der ein wenig unruhigen Nacht komplett ausgeschlafen.

Wir klappten die untersten Betten wieder hoch, holten uns vom Schaffner einen Kaffee und packten unser am Vorabend bei einem Berliner Bahnhofsbäcker gekauftes Frühstück aus. Und liessen uns vier weitere Stunden durch herbstliche Landschaft schaukeln.

Ich wiederhole mich, aber das war sicher die erholsamste und angenehmste Art, einen über tausend Kilometer langen Reiseabschnitt hinter uns zu bringen, die wir je erlebt haben.

Und sollte der Snälltåget nächsten Sommer wirklich bis nach Dresden fahren, wären das in der Tat fantastische Aussichten!

In Stockholm war es vergleichsweise eisig kalt (8Grad), aber sonnig. Wir holten Jacken und Halstücher wieder aus den Rucksäcken und schlossen die Rucksäcke – zum zehnfachen Preis dessen, was wir in München dafür bezahlt hatten – für drei Stunden am Bahnhof ein.

Wir wollten den Nachmittag nutzen, um auf den Rathausturm zu steigen. Dort wurden wir aber beschieden, dass das nur in den Sommermonaten möglich sei. Ach, die Nordländer mit ihren Sommermonaten, in denen das Leben stattzufinden hat, und dem Rest des Jahres, in dem man zu Hause bleiben muss…! Also lenkten wir unsere Schritte wieder in die Altstadt, die Mägen knurrten uns nämlich auch.

Dann holten wir die Rucksäcke wieder aus den Schliessfächern und aus den Rucksäcken auch noch Mützen und Handschuhe und machten uns zu Fuss auf den Weg zum Fährterminal.

Leider nicht zur „Amorella“.

Ich hatte ja von Anfang an zwiespältige Gefühle für das chinesische Schiff, aber dann dachte ich, vielleicht ist sie ja doch ganz schön geworden. Leider nein. „Die Glory hat alles, was man nicht braucht“, kommentierte jemand auf Instagram – und das war genau der Gedanke, den ich nach dem Betreten des Schiffes als erstes gehabt hatte. Zumindest, wenn einem andere Dinge wichtig sind als Shoppen, Saufen und Karaoke singen.

Die Inneneinrichtung hat leider überhaupt nichts von nordischem Design, sondern ist… nun ja… chinesisch.

Das Schlimmste aber ist das Sonnendeck, das nicht nur unglaublich klein ist, sondern auch den Charme eines Fabrikhinterhofs hat. (Zum Vergleich: auf dem riesigen, zweistöckigen Oberdeck der „Grace“ gibt es sogar ein Klettergerüst und eine aufgemalte Rennstrecke, die man im Sommer mit Tretautos befahren kann und auf der zu jeder Jahreszeit die Teenager und Fast-Teenager unserer Familie immer noch um die Wette rennen.)

Auf Frühstück mussten wir leider auch verzichten, da es im Café nur überteuerte Sachen – also noch überteuertere Sachen als auf den anderen Fähren – gab und uns nicht mal die finnische Alternative Haferbrei blieb, da Puuro auf der „Glory“ schlicht nicht vorgesehen ist. Und das ist nun das Schiff, das uns fortan aus jedem Urlaub nach Hause bringen soll…! Seufz.

In Turku waren zwei Grad minus, weswegen wir vorm Landgang auch noch die Wollpullover aus den Rucksäcken holen mussten. Der Schock war dann aber gar nicht so gross. Vielleicht war der glitzernde Raureif in der aufgehenden Sonne auch einfach nur zu schön.

Das Fräulein Maus ging direkt vom Hafen aus zur Schule, die Herren Maus mit Umweg über zu Hause. Das war allermaximalste Ferienausnutzung, und bis heute fragen wir uns manchmal, wenn wir an die Reise zurückdenken: Hatten wir vielleicht doch drei statt einer Woche Herbstferien?!

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(1) Turku-Stockholm-Hamburg
(2) Hamburg-München-Venedig
(3) Venedig: Gassen, Kanäle und Boote aller Art
(4) Venedig: Busfahren und im Mittelmeer baden
(5) Venedig: Wolkenkratzer und Sargschränke
(6) Venedig: Don Camillo & Peppone, geflügelte Löwen und jede Menge Wäscheleinen
(7) Venedig-München-Berlin
(8) Berlin, Berlin
(9) Berlin-Stockholm-Turku


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Mit dem Zug nach Venedig (7): Venedig-München-Berlin

Letzter sehnsüchtiger Blick zurück. Als wäre der Bahnhof Santa Lucia, für den einst eine Kirche weichen musste, von der er seinen poetischen Namen hat,  ein Portal zwischen einem Wunderland und der modernen Welt.

Ein bisschen spannend wurde es noch, weil ab 21 Uhr die italienischen Eisenbahner*innen streikten und nicht so ganz klar war, inwieweit unser Zug, zwar von der Österreichischen Bahn operiert, aber immerhin das italienische Schienennetz nutzend, davon betroffen sein würde. Aber das Einzige, was passierte, war, dass statt eines Schlafwagenzuges ein normaler Zug einfuhr, mit dem wir die zehn Minuten nach Mestre fahren mussten, wo wir in den Nachtzug umsteigen durften. (Angeblich war daran aber nicht der Streik, sondern ein Gleisbruch schuld.)

Eine weitere halbe Stunde später hatten wir uns und unser Gepäck in die Kabinen sortiert, dem Schaffner die Fahrkarten und die angekreuzten Frühstückswünsche ausgehändigt und liessen uns in den nach den 18 000 Schritten des Tages wohlverdienten Schlaf schaukeln.

5:48 Uhr hämmerte die Bundespolizei an die Tür, liess sich die Pässe aushändigen und leuchtete uns allen mit der Taschenlampe ins Gesicht – den grossen Herrn Maus mussten wir dafür auf ausdrückliche Anordnung wecken – um zu kontrollieren, ob wir auch berechtigt seien, nach Deutschland einzureisen. Waren wir, nur gewollt habe ich ab dem Zeitpunkt eigentlich nicht  mehr.

(Schengen?! Hallo?!)

Frühstück im Bett. Die ÖBB macht’s möglich.

Um sieben standen wir mit weiteren fünf Prosecco-Fläschchen, drei übriggebliebenen Frühstücksbrötchen, einem Saftpäckchen, zwei angefangenen Marmeladen- und drei noch halbvollen Honiggläschen in den Rucksäcken in München auf dem Bahnhof. (Gepäckminimierung hat, anders als letztes Jahr, diesmal überhaupt nicht funktioniert.)

Wir hatten drei Stunden Zeit, die wir aber nicht einmal für ein ausgiebiges Frühstück beim Bäcker nutzen konnten, weil wir ja schon Frühstück gehabt hatten. Wir freuten uns deshalb besonders, dass es gleich neben dem Bahnhof eine schon früh um sieben geöffnete DM-Filiale gab, in der wir schon mal anfingen, unsere Deutschland-Einkaufsliste abzuarbeiten. (Der Bahnhofs-Buchladen, an den die Kinder grosse Erwartungen gehabt hatten,  war leider eine Enttäuschung.)

Fünf vor zehn standen wir mit fünfhundert anderen Menschen auf dem Bahnsteig, und ich hörte zufällig, wie ein ebenfalls auf dem Bahnsteig wartender Zugbegleiter ins Handy sprach: „Weisst du, wo der Zug ist?!“ Lustig.

Zehn Minuten später hatte sich der Zug gefunden; sehr zu Freude der Kinder, die auf der Hinfahrt ein bisschen enttäuscht gewesen waren über den „alten“ ICE, ein ICE4. Es sollte sich dann aber herausstellen, dass der ICE1 nicht nur schneller fahren kann, sondern auch besser und schöner ausgestattet ist.

Der Schaffner gab ebenfalls sein Bestes, um bei mir akute Fluchtreflexe auszulösen. Eine Durchsage mit dem schlichten Hinweis auf die Maskenpflicht an Bord reichte nicht, er musste noch eine Drohung mit der Bundespolizei, die am letzten Bahnhof schon fünf Maskenverweigerer aus dem Zug geholt hätte, hinzusetzen sowie ein pampiges „Wem das nicht passt, der kann gern am nächsten Bahnhof aussteigen“. Danach sowie nach der ebenfalls recht hitzigen Diskussion, die sich fünf Tage vorher auf Instagram entsponnen hatte, war ich allmählich soweit, zu verstehen, warum in Deutschland so viele Menschen gegen die Coronamassnahmen protestiert haben, während in Finnland, wo es zu keiner Zeit eine Maskenpflicht, sondern nur eine Maskenempfehlung gegeben hat, alle klaglos Masken getragen haben.

Meine Güte, dieser Umgangston! Diese starren, willkürlichen Regeln! Diese ständige Androhung von Konsequenzen!

Überhaupt finde ich, dass man die Fronten gar nicht erst so verhärten lassen müsste: mittlerweile kann jede*r geimpft sein und sich dank FFP2-Masken auch selbst schützen, da muss man sich doch keine Grabenkämpfe mit jemandem liefern, der partout keine Maske tragen will…

In Berlin verliessen wir jedenfalls ohne jede Wehmut den überfüllten Zug, bestiegen eine S-Bahn, in der die Durchsage sich auf ein schlichtes „Bitte tragen Sie eine Maske!“ beschränkte, fuhren zu unserem Hotel, ruhten uns kurz aus, machten einen Abendspaziergang (War das Brandenburger Tor schon immer so klein?!), ergatterten einen Termin für die Besichtigung der Reichstagskuppel am nächsten Tag, assen einen langersehnten Döner und fielen in unsere Betten.

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(1) Turku-Stockholm-Hamburg
(2) Hamburg-München-Venedig
(3) Venedig: Gassen, Kanäle und Boote aller Art
(4) Venedig: Busfahren und im Mittelmeer baden
(5) Venedig: Wolkenkratzer und Sargschränke
(6) Venedig: Don Camillo & Peppone, geflügelte Löwen und jede Menge Wäscheleinen
(7) Venedig-München-Berlin
(8) Berlin, Berlin
(9) Berlin-Stockholm-Turku


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Mit dem Zug nach Venedig (6): Don Camillo & Peppone, geflügelte Löwen und jede Menge Wäscheleinen

Da wir um zehn aus unserer Wohnung auschecken mussten – die Rucksäcke durften wir zum Glück wie am Anreisetag im Treppenhaus unterstellen – hatten wir noch zwei Stunden lang gültige Vaporetto-Tickets, die es zu nutzen galt. Wir fuhren von unserer Haltestelle zunächst bis zur Endhaltestelle am grossen Touristenparkhaus, um dann dort neu einzusteigen und einen Sitzplatz ganz vorn zu ergattern. Dann schipperten wir ein letztes Mal den ganzen Canal Grande entlang.

Verkehr wie auf italienischen Strassen.
(Die Polizei fuhr auch mittendrin rum.)

Fünf Öffentliche-Nahverkehrs-Fahrzeuge auf einmal.

Was wir aus finnischer Sicht besonders lustig fanden, war, dass es keine Rettungswesten oder -boote gibt, sondern nur solche quadratischen Rettungskissen mit Seilen dran, an denen sich acht oder zehn Personen gleichzeitig festhalten können. Sogar die grosse Autofähre zum Lido hatte an der Stelle, an der unsere Autofähren Rettungsboote und -inseln befestigt haben, nur jede Menge dieser roten Kissen hängen. Es ist halt warm, das Mittelmeer, und bei dem Verkehr, der in der Lagune und den Kanälen der Stadt herrscht, wird man im Falle des Falles vermutlich sowieso sofort wieder aus dem Wasser gezogen.

An der letzten Haltestelle, bevor das Vaporetto zum Lido übersetzt, stiegen wir aus. Damit waren wir maximal weit von unserer Ferienwohnung und dem Bahnhof entfernt und hatten  viele Gassen, Gässchen, Durchgänge und Brücken  für den Rest des Tages vor uns.

Ausserdem schien in Venedig Waschtag zu sein, denn es hingen ungefähr dreimal so viele Wäscheleinen über den Gassen wie sonst schon, und ich hätte auch einfach den ganzen Tag von Wäscheleine zu Wäscheleine pilgern können.

Don Camillo & Peppone im Jahr 2022.

Nach sechs Stunden Fusslatsche (und dem ein oder anderen Pizzastück, Backteilchen oder Eis) mussten wir dann doch unsere Rucksäcke abholen und uns auf den Weg zum Bahnhof machen.

„Zum Bahnhof. Zum Parkhaus.“
Oder auch: Abreisende Touristen bitte hier entlang!
Seufz.

Ein Hoch auf den Nachtzug, der uns zwei komplette Extratage in Venedig ermöglicht hat!

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(1) Turku-Stockholm-Hamburg
(2) Hamburg-München-Venedig
(3) Venedig: Gassen, Kanäle und Boote aller Art
(4) Venedig: Busfahren und im Mittelmeer baden
(5) Venedig: Wolkenkratzer und Sargschränke
(6) Venedig: Don Camillo & Peppone, geflügelte Löwen und jede Menge Wäscheleinen
(7) Venedig-München-Berlin
(8) Berlin, Berlin
(9) Berlin-Stockholm-Turku


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Mit dem Zug nach Venedig (5): Wolkenkratzer und Sargschränke

An Tag 3 in Venedig waren wir soweit, dass wir keine Karte mehr brauchten, um – sogar  auf verschiedenen Wegen! – zur nächstgelegenen Haltestelle zu finden.

Ausserdem hatten wir inzwischen einen groben Überblick bekommen, welche Vaporetto-Linie wo langfährt, und begannen den Tag damit, die Linie 1 als Fähre über den Canal Grande zu benutzen.

Dann liessen wir uns wieder treiben durch Gässchen und an Kanälen entlang.

Eins unserer grob anvisierten Ziele war das ehemalige jüdische Ghetto. Dort hatten sehr viele Menschen auf sehr engem Raum leben müssen, weshalb es dort die höchsten Häuser Venedigs gibt. Das höchste hat unglaubliche acht Stockwerke!

Ausserdem kamen wir an einem Kindergarten vorbei und erfreuten uns am davor abgestellten Fuhrpark. Venezianische Kindergartenkinder erkennt man daran, dass sie mit Rollern unterwegs sind und – ohne zu zögern und keinesfalls an der Hand ihrer Eltern – im Schlusssprung ins Vaporetto hopsen. Die grösseren spielen Fussball zwischen den Kanälen und scheinen keinerlei Angst zu haben, ihren Ball ins Wasser zu kicken. Touristenkinder gibt es – wir kennen das – praktisch gar keine.

Überhaupt waren wir an dem Tag hauptsächlich in „normalen“ Wohngegenden unterwegs, wo wir kaum noch auf andere Touristen trafen. Je weiter wir uns vom Canal Grande entfernten, umso weniger Menschen waren unterwegs.

Als wir an der Lagune angekommen waren, wo es zu Fuss nicht mehr weitergegangen wären, bestiegen wir das nächste Vaporetto und fuhren nach San Michele, der Friedhofsinsel.

Am meisten beeindruckt haben uns die – in Venedig herrscht allerorten Platzmangel – „Sargschränke“.

Dann fuhren wir zurück und stiegen am Krankenhaus aus. So toll, die Krankenboote und die Einfahrt zur Notaufnahme!

Der kleine Herr Maus machte am letzten Abend ein Video von einem Krankenboot, das mit Blaulicht und Signalmelodie – die die beiden musikbegabten Kinder der Familie schwer erträglich fanden, die mir aber viel besser gefiel als das langweilige Pii-paa unserer Krankenwagen – den Canal Grande entlangraste. „Ich hab‘ das E. gezeigt“ – E. hat mit seiner Familie ein Jahr lang in Rom gelebt – erzählte der kleine Herr Maus nach der ersten Schulwoche nach den Ferien, „und er hat gesagt, das hört sich für ihn ganz vertraut an, weil die Krankenwagen in Italien alle so klingen“. Wie toll es die Kinder von heute haben!  Der kleine Herr Maus war auch ganz aus dem Häuschen, wieviel Italienisch er verstehen kann nach zwei Jahren Spanischunterrich.

Wir ernährten uns vier Tage lang hauptsächlich von – für uns unglaublich preiswerten – Pizzateilchen, Backwaren und Eis. Der Ähämann trank jedes Mal einen – ebenfalls unglaublich preiswerten – Cappuccino, wenn wir anderen eine Toilette brauchten. In den Schaufenstern der Bäckereien lag buntes Sankt-Martin-Gebäck aus, und es war völlig unwirklich, bei schönstem Sonnenschein im Sommerkleid davorzustehen. Nur noch Herbstferien im Süden, waren wir versucht zu beschliessen.

Dann liefen wir weiter durch Gassen und Gässchen. Man kann nicht aufhören damit, vor allem in den Aussenbezirken, in denen es wunderbar ruhig ist, Kinder auf kleinen Plätzen spielen, alte Frauen Katzen und Tauben füttern, Leute ihre Wäsche aufhängen, die Müllabfuhr lautlos über einen Kanal zieht, ein Vogel im vors Fenster gehängten Bauer tiriliert.

Der Tag endete deshalb mit dem Abtransport fünf Fusslahmer mit der Linie 1.

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(1) Turku-Stockholm-Hamburg
(2) Hamburg-München-Venedig
(3) Venedig: Gassen, Kanäle und Boote aller Art
(4) Venedig: Busfahren und im Mittelmeer baden
(5) Venedig: Wolkenkratzer und Sargschränke
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(7) Venedig-München-Berlin
(8) Berlin, Berlin
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Mit dem Zug nach Venedig (4): Busfahren und im Mittelmeer baden

Die Nacht war ein bisschen unruhig, denn – eigentlich wenig überraschend, aber im Oktober doch irgendwie unerwartet – es gibt Mücken in Venedig! Jedes Stückchen Haut, das unter dem Bettzeug hervorgeguckte, war innerhalb von Minuten zerstochen. Und dieses nervtötende Gesirre! Zum Glück gilt auch bei italienischen Mücken: ab zwanzig Stichen juckt es nicht mehr.

(Es hätte Mückenfallen gegeben in der Wohnung, aber das erfuhren wir erst beim Auszug.)

Apropos Ferienwohnungen mit Ausblick:

Als wir früh die Vorhänge und Fensterläden aufmachten, hing noch Dunst über der Stadt. Boote tuckerten über den Kanal, Strassenkehrer und Lieferanten holperten behände mit ihren Wägelchen über die kleine Brücke, als hätte sie gar keine Treppen, und die Drogerie, über der wir wohnten, wurde mit Klopapier beliefert.

Der Plan für den Tag war: ausgiebig Bus Vaporetto fahren.

Nach dem Frühstück brachen wir zu Fuss Richtung Bahnhof auf, weil es an „unserer“ Haltestelle keinen Fahrkartenautomaten gab.

Dann rechneten wir ein bisschen, erstanden fünf 48-Stunden-Tickets und schipperten zunächst einmal mit der Linie 1 den Canal Grande entlang, die wirklich an jedem Pflaumenbaum dritten Palazzo – mal auf der einen Seite, mal auf der anderen – hält und schon allein dafür über eine halbe Stunde braucht.

Schwimmende Wartehäuschen.

Auf Wunsch der Kinder fuhren wir gleich weiter zum Lido, denn sie wollten wenigstens einmal im Mittelmeer baden.

Ich hatte mir den Lido ja irgendwie als eine riesige Sandbank mit ein paar Strandschirmchen und Eiskiosken drauf vorgestellt, was daher rühren mag, dass ich als Kind „Die seltsamen Abenteuer des Marco Polo“ gelesen habe und zu dessen Zeit ja nun tatsächlich dort noch kein Badeort war.

Am schlimmsten fand ich, dass auf dem Lido Autos fahren dürfen und es auch sonst aussieht wie in einer normalen italienischen Stadt. Wir schwammen alle eine Runde im warmen und ungeheuer salzigen Meer, sammelten ein paar Muscheln und verliessen dann die Insel fluchtartig wieder.

Vaporetto fahren ist tatsächlich wie Bus fahren: es kommt dauernd einer. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir irgendwann einmal länger als 10 Minuten gewartet hätten.

Es gibt nur eine Art, mit Dampfzügen und Wasserbussen zu fahren: draussen.

Weil wir nun einmal auf der Südostseite Venedigs waren, fuhren wir gleich noch nach Murano, wo um die Uhrzeit kaum noch Touristen waren.

Weil in den venezianischen Glasbläserwerkstätten immer wieder Feuer ausgebrochen waren  und auf die Stadt übergegriffen hatten, wurde im Jahr 1295 bestimmt, dass alle Glasbläser auf die Insel Murano übersiedeln mussten. Sie ist auch tatsächlich viel weniger eng bebaut, und da wir alle grosse Fans enger Gässchen sind, waren wir uns am Ende des Tages einig: in Venedig selbst ist es am schönsten.

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Mit dem Zug nach Venedig (3): Gassen, Kanäle und Boote aller Art

Wenn nicht unsere Vermieter irgendwann angerufen hätten, wo wir denn bleiben, hätten wir vermutlich nach einer Stunde noch auf der Bahnhofsbrücke gestanden und uns den morgendlichen Berufsverkehr auf dem Canal Grande angeguckt.

Mehr noch als über enge Gässchen, schmale Durchgänge und malerische Brückchen über kleine Kanäle habe ich vier Tage lang gejuchzt über Boote voller Wäschesäcke, Bierkästen und Klopapier, über die gelben Krankenboote mit Blaulicht, die grünen Boote der Müllabfuhr, die rot-gelben DHL-Boote voller Briefe und Amazon-Päckchen und sogar über das Friedhofsboot, das einen blumengeschmückten Sarg geladen hatte. Denn alles, wirklich alles, was anderswo auf Strassen bewegt wird, wird in Venedig auf dem Wasser transportiert.

Unsere Vermieter hatten uns geschrieben, wie wir mit dem Vaporetto, also sozusagen dem Bus, vom Bahnhof  zur Ferienwohnung gelangen könnten. Aber wir wollten lieber laufen, und wenn wir nicht dauernd hätten stehenbleiben und gucken und fotografieren müssen, wären wir auch in einer Viertelstunde dagewesen.

Dann stellten wir die schweren Rucksäcke ab und machten uns direkt wieder auf den Weg. Ohne Ziel und Plan. Gab es rechts einen schmalen Durchgang, nahmen wir den. Führte nach links eine enge Gasse, bogen wir dort ein. Standen wir plötzlich vor einem Kanal ohne Brücke, kehrten wir um.

Nachdem wir zwei Stunden so ziel- und planlos herumgelaufen waren, kam der Wunsch auf – weil wir in den letzten Herbstferien den „Herrn der Diebe“ gelesen hatten – jetzt zum Markusplatz zu gehen und den Löwen auf der Säule anzugucken.

„Klar“, sagte ich. Und „Ach du Sch…“, dachte ich eine halbe Stunde später, als wir uns mit zweitausend anderen Touristen über die Rialtobrücke kämpfen mussten. Es ist nämlich so, dass es über den Canal Grande, der Venedig in zwei Hälften teil, insgesamt nur vier Brücken gibt, davon zwei gleich am Anfang, eine – die Rialtobrücke – in der Mitte und eine am Ende, und sich dann dort die Touristenströme kanalisieren.

„Venedig ist dreckig und stinkt“, hört man ja öfter. Venedig ist genau dort dreckig und stinkend und unerträglich, wo sich die Touristenströme von der Rialtobrücke zum Markusplatz wälzen. Und zu allem Überfluss – wie kann es anders sein?! – war der Markusplatz aufgebuddelt.

Wir traten fluchtartig den Rückzug an. Denn überall sonst ist Venedig ganz und gar wunderbar und zauberhaft.

Als wir alle schon ganz fusslahm und von der plötzlichen Hitze – einen halben Tag Akklimatisierungszeit brauche sogar ich! – ganz erledigt waren, traten wir den Rückweg zu unserer Ferienwohnung an und legten eine kleine Ruhepause ein. (Der kleine Herr Maus legte sich kurz auf den sehr dicken, weichen Teppich im Schlafzimmer und war nach zwei Minuten eingeschlafen.)

Später gingen wir nochmal zu einem kleinen Supermarkt um die Ecke fünfundzwanzig Ecken, um Abendbrot einzukaufen.

Der kleine Herr Maus und ich warteten draussen und wurden mit der verantwortungsvollen Aufgabe betraut, einen venezianischen Hund im Auge zu behalten, während sein Frauchen kurz einkaufen ging.

Das hat mir gut gefallen, dass die Venezianer*innen die Touristen einfach einbeziehen. „Hilf mir mal hier hoch!“, hatte schon am Morgen eine alte Frau mit Krückstock den Ähämann aufgefordert, ihm den Arm hingehalten und sich über die zwanzig Stufen einer Brücke führen lassen.

Der Teil der Familie, der früher am Abend auf einem Teppich einen Powernap gehalten hatte und nun nicht mehr müde war, bat nach dem Abendbrot darum, nochmal einen Spaziergang zum Canal Grande zu machen. Und solche Wünsche werden in unserer Familie ja selten ausgeschlagen.

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(1) Turku-Stockholm-Hamburg
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(3) Venedig: Gassen, Kanäle und Boote aller Art
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(7) Venedig-München-Berlin
(8) Berlin, Berlin
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Mit dem Zug nach Venedig (2): Hamburg-München-Venedig

Der Ähämann hat ein Händchen für Unterkünfte mit Ausblick.

Als wir vor drei Wochen plötzlich noch eine Übernachtungsmöglichkeit in Hamburg, möglichst in Bahnhofsnähe, brauchten, waren wir froh, überhaupt noch irgendwas buchen zu können. Aber dann stellten wir fest, dass das Hotel auch diesmal ein Glücksgriff gewesen war: in der Mitte eines Gleisdreiecks, mit Ausblick auf passend zum Thema der Reise alle zwei Minuten vorbeifahrende Züge aller Art.

(Wir sahen sogar am Morgen nochmal den Zug, mit dem wir aus Kopenhagen gekommen waren, als er von einem Abstellgleis, auf dem er die Nacht verbracht hatte, zurück zum Bahnhof geschoben wurde.)

Wir schliefen bis halb neun aus, dann machten wir uns auf den Weg zu einem sonntags geöffneten Bäcker, um zu frühstücken, und besorgten den Proviant für den bevorstehenden halben Tag im Zug notgedrungen – ich weiss nicht, ob ich mich jemals noch wieder daran gewöhnen werde, dass man völlig aufgeschmissen ist, wenn man sonntags in Deutschland ankommt – im Bahnhof.

Dann bestiegen wir einen ICE, in dem wir sehr komfortabel in einem eigenen Abteil reisten, und glitten in nur sechs Stunden – vorbei an Windrädern, Kuhherden, sonnenbeschienenen Herbstwäldern und Autobahnen, auf denen die Autos klein wie Spielzeug aussahen und als würden sie Schritt fahren – einmal von Nord nach Süd durch ganz Deutschland.

„Was macht ihr die ganze Zeit im Zug?“ bin ich schon mehrmals gefragt worden.

Wir wollten lesen und vorlesen, Reisetagebuch schreiben und malen, Rommé spielen, dem kleinen Herrn Maus einen riesigen Fitzbatzen auskämmen. Aber dann haben wir geguckt und geguckt und geguckt – und plötzlich waren wir in München.

In München hatten wir reichlich fünf Stunden Aufenthalt. Wir schlossen die schweren Rucksäcke ein und machten uns auf den Weg in die Innenstadt. Die Sonne ging gerade unter, und es war so warm, dass sogar ich Frostbeule im T-Shirt sein konnte. Völlig unwirklich!

Als wir noch in Jena wohnten, war der Damals-noch-nicht-Ähämann einmal auf einer Tagung in München. Ich kam Freitagabend nach, und wir verbrachten das Wochenende dort. Samstagvormittag hörte der Ähämann sich noch Vorträge an, und ich lief durch die Stadt von einer Kirche zur anderen, eine beeindruckender und prunkvoller als die andere. Das wollten wir diesmal im Kleinen wiederholen.

In der ersten Kirche, an der wir vorbeikamen, war gerade der Gottesdienst zu Ende, und über all dem Prunk schwebten noch Weihrauchschwaden und Orgelklänge, und das war nach dem Tag im Zug fast überirdisch schön.

Draussen war es inzwischen dunkel geworden. Wir brauchten eine Weile, um zu begreifen, dass uns die Stadt nicht nur deswegen so dunkel vorkam, weil es für unser Empfinden nach Sonnenuntergang unheimlich schnell dunkel wurde, sondern weil tatsächlich keine öffentlichen Gebäude mehr angestrahlt werden. Das fanden wir prima, vor allem, weil hierzulande zwar seit Monaten vom Stromsparen geredet wird, aber rein praktisch gar nichts passiert. Seufz.

Nach einem Abendbrot, bei dem wir uns sehr viel Zeit gelassen hatten, weil immer noch so viel Zeit rumzubringen war, gingen wir zurück zum Bahnhof, holten die Rucksäcke aus den Schliessfächern und guckten uns ein bisschen an, was zu später Stunde noch los ist auf dem Bahnhof.

Internationales Treffen der Hochgeschwindigkeitszüge. ♥

Schlimm müde waren wir noch nicht, aber doch ganz froh, als unsere Betten in Sicht kamen.

Man muss nur unbedingt den richtigen Wagen nehmen, nicht, dass man am nächsten Morgen in Budapest aufwacht statt in Venedig. ;-)

An Bord herrschte Klassenfahrtstimmung.

Der Ähämann und die Herren Maus hatten ein Männerabteil, das Fräulein Maus und ich mussten uns das Abteil mit noch einer Frau – wir hatten aber sowohl auf der Hinfahrt als auch auf der Rückfahrt sehr sympathische Mitfahrerinnen – teilen. So ein Schlafwagenabteil ist wirklich eng, und noch bevor jeweils drei Personen sich und ihr Gepäck sortiert und irgendwie verstaut hatten, lief die Schlafwagenschaffnerin – es gibt tatsächlich zwei Schlafwagenschaffner*innen pro Waggon bei der ÖBB! – fröhlich „Wolln’s a Prosecco?“ rufend von Abteil zu Abteil. Das war sehr lustig, vor allem, wenn man bisher ausschliesslich in Finnland Nachtzug gefahren ist.

Ausserdem wurden die Fahrkarten eingesammelt und Formulare zum Ankreuzen der Frühstückswünsche, Schlüsselkarten sowie Tüten mit Wasserflasche, Schlafmaske, Handtuch, Hotelpantoffeln und Ohrenstöpseln ausgeteilt.

Dann liessen wir uns in den Schlaf schaukeln.

Um sieben klopfte die Schaffnerin an und fragte höflich, ob sie das Abteil umbauen soll, so dass wir auf dem unteren Bett sitzen und am Klapptisch essen könnten, aber wir drei entschieden uns nach kurzer Beratung, die sich vor allem darum drehte, wie wir so schnell unseren Krempel aus den Betten kriegen und wohin unser Gepäck stopfen sollten, einstimmig für Frühstück im Bett.

Wir waren übrigens sehr begeistert davon, dass es echtes Besteck und echtes Geschirr – Kaffeebecher aus Kahla-Porzellan! – und Honig und Marmelade in Gläschen gab und fast kein Müll anfiel.

(Die Hotelpantoffeln und die Schlafmasken haben wir in der Hoffnung, dass sie dem nächsten Reisenden in die Tüte gepackt werden, im Zug gelassen. Die Handtücher bekommen ein zweites Leben im Hort.)

Als wir das Rollo hochzogen, sahen wir Palmen in Morgennebel. Und Häuser, die keinen Zweifel daran liessen, dass wir  uns in Italien befanden.

Dann hielt der Zug ein letztes Mal in Mestre, und als wir über den Damm in die Lagune hineinfuhren, konnten wir durchs Zugfenster schon die ersten Häuser von Venedig sehen.

Und dann waren wir da. Keine zweieinhalb Tage nach Abfahrt in Finnland standen wir in Venedig auf dem Bahnhof.

Früh halb neun, und die Luft war warm und feucht und das Licht ganz hell und weiss, obwohl sich die Sonne gerade erst durch den Dunst zu kämpfen begann. Wir standen und staunten und hatten keine Eile. Erst als sich alle Passagiere zerstreut hatten, verliessen auch wir den Bahnhof.

Wenn man die Bahnhofstreppen hinuntersteigt, steht man direkt am Canal Grande, auf dem um diese Uhrzeit morgendlicher Berufsverkehr herrschte: Linienboote, Paketausträgerboote, Polizeiboote, Krankenboote mit Blaulicht, Boote voller Obst und Gemüse, die Müllabfuhr…

Es gibt ein Foto, auf dem stehen die Kinder und ich auf den Bahnhofstreppen, und uns allen vieren steht diese völlig ungläubige Verwunderung ins Gesicht geschrieben, die wir bei diesem Anblick, auf den wir nicht unvorbereitet waren, aber der doch alle unsere Erwartungen übertraf, empfunden hatten.

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(1) Turku-Stockholm-Hamburg
(2) Hamburg-München-Venedig
(3) Venedig: Gassen, Kanäle und Boote aller Art
(4) Venedig: Busfahren und im Mittelmeer baden
(5) Venedig: Wolkenkratzer und Sargschränke
(6) Venedig: Don Camillo & Peppone, geflügelte Löwen und jede Menge Wäscheleinen
(7) Venedig-München-Berlin
(8) Berlin, Berlin
(9) Berlin-Stockholm-Turku