Mit dem Fahrrad auf das Autodeck der grossen Schwedenfähre fahren dürfen :-)
Wir sind also wieder da. Nicht ganz auf dem Weg, den wir geplant hatten. Dabei hatte es so schön angefangen:
Donnerstag, 23.06.2005
Ich glaube, die Landhebung Finnlands ist seit der Motorisierung ins Stocken gekommen. Wahrscheinlich senken sich alle Inseln zumindest zu Juhannus wieder um etliches, weil sie einfach überladen mit Menschen und Autos sind.
Sämtliche Strassenfähren waren heute überfüllt. Die Fähre zwischen Parainen und Nauvo verkehrte heute mit drei (!) Fahrzeugen. Keine Ahnung, von wo sie die dritte Fähre herangeschafft hatten. Auf „Sterna“ und „Falco“ kam sogar die herunterklappbare Autobalustrade zum Einsatz. Trotzdem gab es Rückstau. Toll, mit dem Fahrrad einfach daran vorbeizufahren!
Überhaupt war es schön, die uns eigentlich bekannt Strecke nach Korppoo mal mit dem Rad zu fahren. Gibt es die Brücke hier immer? Hat dieses Haus immer schon so kunstvolle Fensterrahmen gehabt? Und nie hätten wir bemerkt, was alles am Wegesrand wächst. In den letzten vier Wochen ist hier alles nur so herausgeschossen. Die Wiesen sind gelb von Butterblumen und Wundklee, lila von Storchschnabel, rosa von Nelken, weiss von Margerithen undWiesenkerbel. Und die Strassenränder sind voll blühender Lupinen. Viele Leute sahen wir, die pflückten Blumen und Birkenzweige für Juhannus.
Kurz vor Parainen kauften wir den ersten Liter finnischer Erdbeeren dieses Jahr. Njam! Erdbeeren mit richtigem Erdbeergeschmack! Wir beschlossen sofort, an jedem Erdbeerstand unterwegs eine Erdbeerpause einzulegen. Leider war es der einzige bis Korppoo. Im Supermarkt in Parainen herrschte Gedränge wie in Deutschland vor Weihnachten. Mich haben die Vorbereitungen für Juhannus ja schon immer an Weihnachtsvorbereitungen erinnert.
Nach 80 km und zwei Strassenfähren und ein wenig kaputt kamen wir in Galtby an, wo um 21:00 Uhr unsere Fähre nach Åland abfuhr. Auf dieser Fähre muss nur für Autos bezahlt werden, Fussgänger und Radfahrer fahren umsonst. Fahrräder werden nach Ausstiegsorten sortiert und an einen entsprechenden Platz gewiesen, dann bekommt jeder einen dicken blauen Bindfaden in die Hand gedrückt, um sein Rad hochseetauglich zu sichern.
Im Passagierraum stand ein Strauss Wiesenblumen, und neben dem Kaffeeautomaten gab es einen Tisch mit viel Kuchen, jeder mit einem Preis versehen, daneben ein Sparschwein. Sowas funktioniert hier. Wir zwei Ausländer waren wahrscheinlich auch die Einzigen, die ihre Fahrräder abgeschlossen haben.
Bis 2:00 Uhr fuhren wir mit der Fähre durch die Mittsommernacht. Zum Glück habe ich das Bis-um-drei-Aufbleiben die letzten Tage schon ausgiebig trainiert.
Freitag, 24.06.2005
Als wir um zwei in Långnäs ankamen, hatten alle Autos und fast alle Passagiere das Schiff schon verlassen, auf Kökar oder Föglö. In Långnäs gingen nur wir und zwei andere Radfahrer noch von Bord.
Wir hatten uns geschworen, maximal noch 500 m zu fahren, allerhöchstens 800, falls es bergab ginge. Nach sechs Stunden Pause fuhr es sich trotz Müdigkeit wieder überraschend leicht. Über den Bäumen hing der Mond wie eine riesige Apfelsine und warf breite orange Streifen aufs Wasser, die Vögel sangen im Zwielicht, und es regte sich kein Lüftchen, was uns zu der scherzhaft gemeinten Aussage verleitete: Lass uns doch gleich weiterfahren bis Mariehamn, ehe morgen wieder der doofe Wind weht! Hätten wir’s mal gemacht!!!
Erstmal bauten wir aber doch mal lieber unser Zelt auf, ganz ohne Stirnlampe und dergleichen, war ja hell. Als ich acht Stunden später wieder aufwachte, schien nicht nur die Sonne heiss aufs Zelt, sondern hörte ich es auch schon verdächtig laut rauschen in den Baumwipfeln. Das hatte uns gerade gefehlt, so kaputt wie wir von den 80 km gestern waren (aber noch eine Übernachtung einzuschieben zwischen Turku und Korppoo fanden wir auch doof) – die ganze Zeit Gegenwind! So quälten wir uns nur die 30 km bis Mariehamn, unterbrochen von einer langen Badepause.
Mittlerweile wurde uns auch klar, warum Åland als Paradies für Radfahrer gilt. Fast überall gibt es Radwege, und wo es keine Radwege gibt, haben die Strassen extrabreite Seitenstreifen. Autofahrer halten an Zebrastreifen IMMER für Radfahrer an, und sind auch sonst sehr rücksichtsvoll. In Finnland gibt es auch fast überall Radwege, aber wo es keine Radwege gibt macht das Fahren auch wirklich keinen Spass. Finnland hat zwar die geringste Verkehrsdichte Europas, aber wehe, ein finnischer Autofahrer soll die Strasse mit einem Radfahrer teilen…!
Sonnabend, 25.06.2005
Schon bevor wir überhaupt losgefahren waren hatte uns ein Blick auf die Wettervorhersage gesagt, dass wir am Samstag wohl einen Ruhetag in Mariehamn einlegen müssten. Und richtig – als wir aufwachten, stürmte es wie wild, und kurz darauf fing es an zu regnen. Der für solches Wetter geplante Schwimmhallenbesuch musste auch ausfallen –zu Juhannus geschlossen. Schon gestern Abend war es schwer gewesen, ein geöffnetes Restaurant zu finden. So ist das eben. Zu Weihnachten will ja auch niemand schwimmen gehen.
In Anbetracht von Vidals schon gestern aufgetretenen Knieproblemen machten wir uns dann zunächst zum Westhafen zum Silja- und Viking-Terminal auf, um nach dem Fahrplan und Preisen zurück nach Turku zu fragen. :-( Hinterher waren wir Kaffee trinken, und siehe da, dann kam auch die Sonne schon wieder raus, weswegen wir uns noch zu einer kleinen Rundfahrt mit Rädern ohne Gepäck rund um Mariehamn hinreissen liessen.
Åland hat viele Kühe und Schafe. Åland hat keine Elchwarnschilder, sondern Hirschwarnschilder. Åland hat die höchste Pro-Kopf-Anzahl an Autos in ganz Finnland, aber man darf nur 70 km/h fahren auf Landstrassen. Åland hat eine eigene Fahne: rotes Kreuz auf gelbem Kreuz auf blauem Grund, die anlässlich des Mittsommers überall, wirklich überall zu sehen war. Vereinzelte finnische Fahnen gab’s auch. Åland ist sehr aufgeräumt. Åland ist ein bisschen schwedisch. Åland wirkt sehr reich. Und ich habe es endlich geschafft, die Grenze von „Ich verstehe zwar jede Menge Schwedisch, aber ich kann kein Wort sagen“ zu „Ich kann zwar nicht wirklich Schwedisch sprechen, aber für ein paar Sätze reicht es“ zu überschreiten! :-)
Sonntag, 26.06.2005
Nobel geht die Welt zugrunde: wenn wir schon –schweren Herzens! – von Mariehamn aus mit der Schwedenfähre zurück nach Turku müssen, statt mit dem Rad und diversen kleinen Fähren die Runde zu Ende zu fahren, dann leisten wir uns diesmal statt der “Zigeunerline“ eine Überfahrt mit den “Blauen“. Als ich 1994 zum ersten Mal mit der “Europa“ fuhr, war sie ein funkelnagelneues, beeindruckendes und edles Fährschiff, das eher an ein Kreuzfahrtschiff erinnerte. Elf Jahre fast pausenlosen Einsatzes zwischen Finnland und Schweden (diese Schiffe sind praktisch nur in Bewegung, jeden Tag der Woche, das ganze Jahr lang, und in den Endhäfen sind sie nie länger als eine Stunde, für eine gründliche Reinigung ist eigentlich gar keine Zeit), Sauftouren und Karaoke-Partys haben allerdings ihre Spuren hinterlassen. Man sieht noch, dass sie ein wenig aufwändiger designt wurde – es gibt auch ein paar mehr ruhige Fleckchen als auf den Konkurrenzschiffen, und der kreuzfahrtschiffmässige Windschutz auf dem Sonnendeck ist ganz prima – aber mittlerweile ist sie genauso heruntergekommen und versifft wie es die Schiffe der „Zigeunerline“ sind. Nur das Publikum ist ein wenig versnobter.
Wir haben uns am Buffet die Mägen so vollgeschlagen (nirgends sonst gibt es so leckeren Fisch und so leckere Nachspeisen wie auf diesen Schiffen!), dass wir uns hinterher gerade noch so auf’s Sonnendeck in den Liegestuhl schleppen konnten. Ansonsten kam ich mir vor wie unser ältlicher Botaniker, der seinerzeit unbedingt mit auf Exkursion nach Tunesien kommen wollte, und angesichts unserer hüpfenden und überquellenden Begeisterung ob der Wüstenlandschaft nur herablassend zu entgegnen wusste: “Ach, das kenne ich doch alles aus der Gobi…!“ Wie, tolle Landschaft?! Inseln und so?! Ach, das kenne ich doch alles von meiner Feldarbeit…! ;-) Die vertraute Route dann aber mal aus 30 m Höhe anzugucken, das war doch toll!
Und nach Hause zu kommen…! Den Dom schon hinter Hirvensalo von der Fähre aus über die Bäume gucken zu sehen. Von der Fähre radeln und gleich wieder auf die Föri drauf. Am Aurajoki entlangradeln, wo die Restaurantschiffe in der Abendsonne alle voller Menschen waren.
Ich weiss nicht mehr, wann das angefangen hat – anfangs kam mir Turku fremd und unfinnisch vor, verglichen mit allem, was ich aus Mittelfinnland kannte – aber jetzt ist Turku schon lange „meine“ Stadt und mein Zuhause. Ich hoffe, der Typ, der uns am Sonnabend am Badeplatz begegnete, schwedisch anquatschte, dann erzählte, er wohne jetzt in Berlin, und ansonsten nur zu sagen hatte: “Ihr wohnt in Turku?! Das’s ne Scheissstadt, ne?!“, ist irgendwann noch drauf gekommen, warum ich kein Wort mit ihm reden wollte.