Den Floh hatte uns vor drei Jahren ein deutsches Ehepaar, das wir auf einem norwegischen Zeltplatz trafen, ins Ohr gesetzt.
Bis dahin hatte ich geglaubt, nach Island käme man als Tourist nur mit dem Flugzeug, aber sie berichteten uns von der Fähre, die einmal pro Woche in 48 Stunden von Norddänemark nach Island fährt und mit der sie mit ihren drei Kindern und ihrem Wohnmobil schon mehrmals gefahren waren.

Seit wir in Finnland wohnen, sind wir daran gewöhnt, dass jede unserer Reisen auf dem Meer beginnt. Dass jede unserer Reisen immer einen Grossteil „Der Weg ist das Ziel“ beinhaltet. Für mich ist tatsächlich die Welt nicht durch die Möglichkeit des Fliegens kleiner geworden, sondern seit der Ähämann und ich mit dem Auto, erst ohne und dann auch mit den Kindern, kreuz und quer durch Europa reisen: von Deutschland nach Tunesien, von Finnland in die Schweiz, über Schweden nach Ungarn, durchs Baltikum in die Slowakei. Man muss nicht fliegen, um weiter als bis ins Nachbarland zu kommen. Das muss einem in der heutigen Zeit ja auch erstmal klar werden.
Ich fliege gern: weil ich Flugzeuge toll finde. Aber ich reise nicht gern mit dem Flugzeug: aus Klimaschutzgründen, weil es zu fünft nahezu unerschwinglich ist, weil man am Zielort dann sowieso in den meisten Fällen noch ein Mietauto braucht, weil man mit dem Flugzeug nicht genug Krempel – schon gar kein Fünf-Personen-Zelt plus Zubehör! – transportieren kann. Und weil mir beim Fliegen das Gefühl für Entfernungen fehlt. Nach dem Fliegen fühle ich mich immer ein bisschen orientierungslos, ein bisschen wie an einem unbekannten Ort gestrandet.
Vier Nächte und drei Tage lang von Finnland nach Island zu reisen fühlte sich der Entfernung angemessen an. Als wir eine Woche später am westlichsten Punkt Islands standen, waren wir schliesslich fast in Grönland!

Für ein paar Stunden allerdings dachten wir, Schifffahren sei vielleicht doch eine Schnapsidee gewesen. Ich bin noch nie seekrank geworden – auch nicht bei der stürmischen 24stündigen Überfahrt von Genua nach Tunis oder im Herbststurm auf der Ostsee zwischen Helsinki und Rostock – aber die „Norröna“, kleiner als unsere Schwedenfähren, fing sofort hinter der Hafenausfahrt in Hirtshals mit dem Schaukeln an – und zwar nicht so ein bisschen hin und her oder auf und ab, sondern eher so achterbahnmässig – und in Verbindung mit Schlafmangel, zu wenig Frühstück und zu allem Überfluss einer Kopfschmerztablette auf nahezu nüchternen Magen war das dann doch zu viel. Dem Rest der Familie ging es auch nicht besser. Wir waren jedoch so müde, dass wir den Grossteil des Nachmittags, Abends und der Nacht einfach verschliefen.
Am nächsten Morgen überliess uns eine deutsche Familie eine ihrer zahlreichen Reisetablettenpackungen – etwas, woran wir, obwohl uns durchaus bewusst war, dass es auf dem Nordatlantik schaukeln würde, schlicht nicht gedacht hatten, weil wir sowas erstens noch nie gebraucht hatten und zweitens in Finnland noch nie auch nur eine einzige Werbung für Reisetabletten gesehen hatte. Die Tabletten und ein ordentliches Frühstück im Bauch halfen jedenfalls schnell, worauf wir den Rest der Reise wieder geniessen konnten.

Beim Frühstück, nach 21 Stunden Fahrt, tauchte Schottland auf. Gewaltige grüne Inseln. Und die ersten Basstölpel segelten neben dem Schiff her. (Da hatten wir freilich noch nicht recherchiert, um was für Vögel es sich handelte. Der grosse Herr Maus taufte sie einstweilen sehr passend Jetmöwen.)
Was man alles verpasst, wenn man fliegt…!


Als die letzte schottische Insel wieder hinterm Horizont verschwunden war, erfreuten wir uns noch lange an den das Schiff begleitenden Jetmöwen. Und an der Sonne und den hundert verschiedenen Blautönen von Wasser und Himmel. Und fast ein bisschen auch an der Schaukelei. Ich zumindest.

Abends hatte die Schaukelei kurzzeitig ein Ende: die Fähre legte für eine halbe Stunde in Tórshavn, der Hauptstadt der Färöerinseln, an. Über dem Hafen hing ein vollständiger Regenbogen, und ich hatte Herzchenaugen: so weit draussen, und plötzlich taucht da wieder eine bewohnte Gegend auf!




In der Nacht und am nächsten Morgen schaukelte es nicht weniger als vorher, aber keiner von uns wurde mehr seekrank. Als Island am Horizont auftauchte, als die ersten schneebedeckten Berge unsere Herzen hüpfen liessen und wir in Seyðisfjörður einliefen, hatte ich eine Ahnung, wie sich die frühen Entdecker gefühlt haben müssen, wenn nach Wochen auf See ein unbekanntes Land, ein neuer Kontinent auftauchte.


(Vor dem Landgang mussten wir allerdings noch an Bord unseren Coronatest absolvieren, dessen Ergebnis uns noch am gleichen Abend per App mitgeteilt wurde.)
Island schwankte übrigens noch zwei Tage lang unter unseren Füssen.
***
Auf der Rückfahrt fühlten wir uns auf der „Norröna“ schon fast zu Hause. Wir erlebten fünf Meter hohe Wellen auf dem Nordatlantik, die das Schiff wie ein grosses Schaukelpferd auf und ab bewegten, und eine nahezu langweilig glatte Nordsee. Wir sahen einen Wal gleich neben dem Schiff! Nachmittags sassen wir in einer heissen Badewanne auf dem Oberdeck, während wir am Leuchtturm von Muckle Flugga vorbeifuhren. Und beim Abendessen nahmen wir alle paar Bissen das Fernglas zur Hand und bestaunten gigantische norwegische Bohrinseln.

Die 46 gemächlichen Stunden Heimfahrt auf der „Norröna“ halfen auch beim Abschiednehmen von Island, das uns überraschend schwer fiel. Es war dann auch durchaus passend, dass wir mit dem Löwen Balthasar die Letzten waren, die von Bord rollten.