Der grosse Herr Maus verbrachte das Wochenende mit einem Schulfreund und dessen Familie im Mökki. Er kam mit einem Eimer Preiselbeeren und einem Eimer Pfifferlinge zurück.
Es hat lange gedauert, bis wir wieder Lust hatten, in den Wald zu gehen.
Während der schlimmsten Coronazeit habe ich immer gesagt, alles nicht so schlimm, solange wir in den Wald dürfen. Und das stimmte ja auch. Aber wir haben damals alle, wirklich alle Wanderwege in der näheren und weiteren Umgebung abgelatscht, und irgendwann hing sogar uns der Wald zum Hals heraus. Wir waren so froh, als wir letzten Winter an den Wochenenden wieder in die Eisbadesauna, in die Schwimmhalle, ins Museum gehen konnten, und ich glaube, wir waren tatsächlich kein einziges Mal wandern letzten Herbst und Winter und Frühling.
Jetzt geht’s wieder.
Und sehr plötzlich ist auch der Herbst ausgebrochen. Mit allen erdenklichen Farben und Abendbrot, das am Wegesrand zum Einsammeln bereitsteht. Und zum Glück nur einer einzigen Elchfliege.
Und dann gibt es ja immer den einen Urlaubstag, der ganz besonders toll ist.
Es war klar, dass wir uns auch diesmal die Gelegenheit, einen Tag im Roháče, im richtigen Hochgebirge, zu wandern, nicht entgehen lassen würden. Und eigentlich hatten wir ja schon beim letzten Mal, vor drei Jahren, beschlossen, dass wir diesmal die Kammtour in Angriff nehmen würden.
Allein, den kleinen Herrn Maus verliessen kurz vorher der Mut und das Selbstvertrauen. Ich machte mir ein bisschen Sorgen, ob des Fräulein Maus‘ kaputttrainierte Knie die Tour mitmachen würden und wie der grosse Herr Maus mit seiner Höhenangst, die er gut im Griff hat, die ihn aber doch hin und wieder quält, über den Ostrý Roháč kommen würde. Wir alle waren nicht in Höchstform, weil die paar Urlaubstage diesmal nicht reichten, um uns erstmal eine gewisse Fitness anzulaufen, und wir auch die Ruhetage ein bisschen vernachlässigt hatten, obwohl es ohne nicht geht beim Bergwandern.
Vielleicht würden wir doch einfach nur nochmal die Seentour laufen; auch die ist ja kein Spaziergang im Tal, sondern führt unerwartet hoch hinauf.
Nun. Wir brachten die vier Kilometer Anmarsch zügig hinter uns. An der Berghütte am Ende der Strasse tranken wir einen heissen Tee. Dann ging ich die Wegweiser angucken und stellte erstaunt fest, dass die Entfernungen ja alle gar nicht sooo weit sind: nur 45 Minuten bis zum ersten Sattel, der mir, nachdem ich 20 Jahre nicht da war, so hoch in Erinnerung war, dass ich mit mindestens der doppelten Zeit gerechnet hätte. Dreieinhalb Stunden bis zum schwierigsten Gipfel. Fünf Stunden bis zum Sattel, von dem wir wieder absteigen würden.
Alles kein Pappenstiel, aber machbar. Wo es doch auch erst halb zwölf war! Und es mit ziemlich grosser Wahrscheinlichkeit auch am Abend kein Gewitter geben würde! Und ach, die langweilige Seentour…! Wenn man stattdessen auch hoch könnte auf den Kamm…! Es ruppt ein’n ja rum, wie man in der Gegend, aus der ich komme, sagt.
Und so kam es, dass wir uns plötzlich auf dem Aufstieg zum Kamm wiederfanden.
Die ersten beiden Gipfel sind Grasberge, die man einfach stoisch einen Fuss vor den anderen setzend erklimmen muss.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Gipfel läuft man übrigens entlang der slowakisch-polnischen Grenze, und die Wanderer grüssen sich in einem lustigen Sprachgemisch. Von polnischer Seite führen aus Steinen gemauerte oder aus Holzbohlen gebaute Treppen vom Tal bis auf den Kamm; sicher ein guter Erosionsschutz – aber ich bin jedes Mal froh, von slowakischer Seite aufsteigen zu können!
Der Ausblick wird mit jedem Höhenmeter grandioser. Das am Horizont ist die Hohe Tatra!
Der zweite Gipfel ist auch schon ein echter Zweitausender.
Und dann fängt der beste Teil der Tour an.
Vor allem der dritte Gipfel, der Ostrý Roháč, ist der Hammer. Man muss ihn nämlich im wahrsten Sinne des Wortes erklettern, und zwar über einen steil abfallenden, schmalen, felsigen Grat.
Der Weg ist mit Ketten gesichert, die eine eigene Kletterausrüstung unnötig machen. Dafür liebe ich die Gebirge im Osten, denn in den Alpen wäre es ganz sicher ein nur mit entsprechender Ausrüstung zugelassener Klettersteig.
Ich war aber froh, dass wir diesmal darauf geachtet hatten, nicht an einem Wochenende hinzugehen, und somit an allen Kletterstellen allein waren. Ich habe an solchen Stellen vollstes Zutrauen in unsere Kinder – aber nicht unbedingt in jeden anderen Bergsteiger.
So, wie es hoch geht, geht es auch wieder runter.
Suchbild: Wo ist die nächste Markierung? Wo geht der Weg lang? (Links von der Mitte. In der Mitte.)
Und dann nochmal hoch. Vierter, höchster und letzter Gipfel.
Eine Gämse („Mama! Eine Ziege!“) und ein Murmeltier sahen wir übrigens auch.
Am Traurigen Sattel stiegen wir ab durchs Traurige Tal zu den abschliessenden vier Kilometern Asphaltlatsche, die wir dann nahezu im Laufschritt hinter uns brachten, um es noch bis Küchenschluss zurück ins Hotel zu schaffen.
Am Traurigen Sattel und dem Traurigen Tal ist dabei eigentlich nichts traurig, ausser dass damit die allertollste Bergtour zu Ende war. Und für mehr die Kräfte auch wirklich nicht mehr gereicht hätten.
(20 km Strecke, 1500 Meter Höhenunterschied. Hammer. Merkt man unterwegs aber gar nicht, weil es so abwechslungsreich ist und man so viel klettern kann.)
Über das Lieblingsgebirge habe ich eigentlich alles schon gesagt. Es wird nicht langweilig, uns allen nicht.
Erschreckend war diesmal allerdings, wie sehr der Klimawandel dort inzwischen zu sehen ist. Nicht nur, dass die Bäume jetzt höher und bis in sehr viel höhere Lagen wachsen als noch vor 20 Jahren und so manche schöne Aussicht einfach zugewachsen ist. Stürme, Trockenheit und Borkenkäfer haben für riesige Kahlschläge in den Tälern und an den Berghängen gesorgt. Sechs von sieben Quellen, an denen wir bis vor drei Jahren noch zuverlässig unsere Wasserflaschen wieder auffüllen konnten, waren ausgetrocknet. Und die Wassermassen, die sich sonst in den Schluchten neben und unter den Kletterleitern in die Tiefe stürzten und uns dabei die eine oder andere Dusche verpassten, waren nur mehr Rinnsale. Seufz.
Und acht Tage waren natürlich viel zu kurz.
Nächsten Sommer mehr Berge. Und weniger Deutschland.
Es widerspricht natürlich völlig dem Streikgedanken – aber unsere Familie geniesst den einwöchigen Lehrer*innenstreik gerade in vollen Zügen.
Man kann zum Beispiel mitten in der Woche Übernachtungsbesuch bekommen. Oder tagelang mit seinen fünf besten Schulfreund*innen mit dem Fahrrad durch die Gegend ziehen. (Wenn man Hunger hat, kann man auch, weil in der eigenen Familie das Mittagessen wegen des langen Ausschlafens erst später stattfindet, mit seinen Freund*innen zur Schule fahren und dort das kostenlose Schulessen, das auch in der Streikwoche angeboten wird, in Anspruch nehmen. Und dann trotzdem hungrig heimkommen, weil das Schulessen eben ist, wie es ist.)
Und man kann auch mitten in der Woche mitten am Schultag wandern gehen.
Jetzt verkünden wieder alle, wie sehr sie den Herbst lieben. Und wie toll es ist, dass es endlich wieder kälter wird.
Wenn’s nach mir ginge, könnte es gern bis Ende Oktober warm bleiben. Und ab Anfang November Schnee liegen.
Immerhin gibt’s im Wald und im Moor keine Mücken mehr. (Und wenn man Glück hat, auch keine Elchfliegen.)
Und das Abendbrot kann man auch gleich im Vorbeigehen mitnehmen.
Ein Strand mitten im Wald! (Eiszeit lässt grüssen.)
Eine Baby-Kreuzotter. (Die war wirklich winzig. Von weitem sah sie aus wie eine kleine Blindschleiche.)
An unserem dritten Urlaubstag verkündete die finnische Gesundheitsministerin, dass für die besorgniserregende Coronasituation in Finnland nicht nur die aus St. Petersburg zurückgekehrten Fußballtouristen verantwortlich zu machen seien, sondern auch die ausländischen Arbeiter und die finnischen Auslandsreisenden.
Diesmal begann sie auf einer fast spiegelblanken Ostsee bei 31°C. Die für die zweistündige Überfahrt auf dem Oberdeck eingepackten langärmeligen Sachen blieben in ihrem Beutel. Im Gegenteil, wir waren froh, als ein bisschen Fahrtwind aufkam.
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Tallinn (1)
Unsere Lieblings-Rhabarberlimonade, die wir erst vor ein paar Jahren in Estland entdeckt hatten, gibt es leider seit Neuestem weder in den Supermärkten der estnischen, lettischen schwedischen oder litauischen Kette. Der Ähämann recherchierte ein wenig und fand heraus, dass es sie nur noch in den wenigen Filialen einer grossen finnischen Supermarktkette, die wir bisher in Estland gemieden haben, gibt. Überhaupt scheint es sämtliche Getränke mit Rhabarber nur da zu geben. Wir entliessen einen uns mitten auf dem Meer zugeflogenen Marienkäfer in die Freiheit, freuten uns über die Familienparkplätze vor dem Supermarkt und luden uns anschliessend die Lücken im Kofferraum mit Rhabarbergetränken voll.
Extrabreite Familienparkplätze haben wir hier übrigens auch vor jedem grösseren Supermarkt, aber nicht so niedliche.
(Ich quietsche auch sehr oft angesichts estnischer Käsepackungen oder Schokoladentafeln.)
((Oder wegen der Niedlichkeit der estnischen Sprache.))
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Tallinna-Narva-maantee (Autobahn Nr. 1)
In Estland kann es passieren, dass man zum Abfahren von der Autobahn wenden muss.
(Zum Auffahren auch.)
Da Estland nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten Geschwindigkeiten ist und sich die Verkehrsdichte ausser auf der Via Baltica in Grenzen hält, funktioniert das recht gut. Wir haben dann diesmal auch gelernt, dass man nach dem Wenden, statt sich direkt in den Verkehr einzufädeln, eigentlich erstmal unverzüglich auf die an diesen Stellen extra angelegte dritte, äusserste Spur fahren und diese dann als Beschleunigungsspur nutzen soll.
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Lahemaa-Nationalpark.
Schon als wir vor acht Jahren die allerersten vier Herbstferientage des Fräulein Maus dort verbrachten, haben wir uns in die Gegend, die schon 1971 als erster Nationalpark der Sowjetunion unter Schutz gestellt wurde, verliebt. Es gibt dort ausgedehnte Urwälder, unendliche Moore und wilde Sandstrände voller Findlinge, aber auch sanft gewellte Felder und Wiesen, auf denen Kühe weiden, Dörfer, die nur aus einer Handvoll gelb oder grün gestrichener Holzhäuschen bestehen, und prächtige Gutshäuser, auf deren Schornsteine die Störche ihre Nester gebaut haben.
Das Beste war: diesmal gingen wir – es war keinen Tag kälter als 28°C – jeden Tag baden. Lahemaa, das Land der Buchten, ist allüberall von der Ostsee umgeben. Der Grossteil der Küste ist mit Schilf zugewachsen, aber es gibt auch Sandstrände, manche mit riesigen Findlingen, die die letzte Eiszeit aus Finnland an die estnische Küste geschoben hat und zwischen denen man in wunderbar klarem Wasser, das auf unserer Seite des finnischen Meerbusens schon seit Juni nicht mehr annähernd so sauber ist, herumschwimmen kann. Sogar in den schwarzen Moorsee durfte man springen – zum Glück hatte ich mich daran erinnert, dass wir so eine Badestelle mitten im Hochmoor schon mal in den vorletzten Herbstferien in einem anderen estnischen Moor entdeckt hatten, und wohlweislich Badesachen in den Rucksack gepackt – er war fast badewannenwarm. Und die Störche waren da – die Jungstörche kurz vorm Ausfliegen und die Eltern unermüdlich Frösche fangend. (Meist neben der Autobahn. Oder hinter dem Traktor, der das erste abgeerntete Getreidefeld umpflügte.) Im Moor wucherte der Sonnentau bis an den Weg und streckte seine klebrigen Fliegenfallen in die Sommerhitze. Die Heidelbeeren wuchsen uns riesig und aromatisch vom Wegesrand in den Mund. Und abends nach der Sauna sahen wir halb elf die Sonne über dem Meer untergehen und liessen uns dabei Abend für Abend von 87364 Mücken und Bremsen zerstechen. (Immerhin juckt es tatsächlich nach 20 Stichen, wie man mir schon in meinem allerersten finnischen Sommer glaubhaft versichert hat, nur noch die ersten fünf Minuten.) Der Himmel blieb die ganze Nacht blau.
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Narva.
Ich bin mit Grenzen aufgewachsen: solchen, die nur ein bisschen gesichert waren, und solchen, von denen man annehmen musste, dass man sie sein Leben lang nicht übertreten dürfen wird. Unsere Kinder sind bisher völlig ohne Grenzen aufgewachsen: wir reisen im Urlaub durch halb Europa und müssen nie irgendwo einen Pass vorzeigen. Wir standen deshalb mit ungefähr den gleichen Gefühlen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – vor der stacheldrahtbewehrten EU-Aussengrenze zwischen Estland und Russland.
Die Städte auf beiden Seiten des Grenzflusses – das estnische Narva und das russische Iwangorod – werden beide von riesigen Festungen beherrscht. Schon seit Jahrhunderten wurde über den Grenzfluss hinweg Krieg geführt und säbelgerasselt.
Auf der Hermannsfeste wehte die estnische Fahne, und die Ausflügler schauten hinüber zur Festung Iwangorod, wo die die russische Fahne wehte und die Ausflügler auf die Hermannsfeste herüberschauten – keine 100 m voneinander entfernt und doch ohne Visum unerreichbar weit weg.
Sowjetischer als in Narva wird’s diesseits der EU-Aussengrenze auch nicht mehr. In Narva steht die letzte Lenin-Statue des Baltikums, vom Stadtzentrum in den Innenhof der Hermannsfeste umgesiedelt, und ich fand die Strasse der Kosmonauten, in der sich wie in der ganzen Stadt geziegelte, unverputzte Wohnblöcke aneinanderreihten, das eine Modell, wie es in allen Städten des Baltikums und wahrscheinlich auch Russlands zu finden ist.
95% der Bevölkerung Narvas spricht russisch; die estnische Bevölkerung durfte nach dem Krieg lange nicht in das komplett zerstörte Narva zurückkehren, stattdessen wurden russische Zuwanderer dort angesiedelt, um die Industrie Narvas am Laufen zu halten bzw. wieder aufzubauen. Es sind auch nur noch 140 km bis nach St. Petersburg. Ein Klacks mit dem Auto. Wenn, ja, wenn.
Wenn man weiterfährt an der Narva entlang nach Norden, bis zu ihrer ebenfalls stacheldrahtbewehrten Mündung in die Ostsee, neben der sich kilometerweite, breite Sandstrände erstrecken, kommt man alle paarhundert Meter an irgendwelchen Soldatenfriedhöfen und Kriegsdenkmälern vorbei.
Eine Welt ohne Grenzen und ohne Krieg, das wär’s…!
Die DDR-Glühlampenmarke hatte übrigens bei aller Freundschaft zu den sozialistischen Bruderländern nichts mit der gleichnamigen estnischen Stadt zu tun: Narva stand in dem Fall für für Stickstoff („N“), Argon („Ar“) und Vakuum („Va“).
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Sillamäe.
Sillamäe ist wie Bielefeld. Nur umgekehrt.
Zu Sowjetzeiten gab es Sillamäe wegen seiner Urananreicherungsanlagen offiziell nicht. Die Stadt war auf keiner Karte verzeichnet – und wir haben lachend festgestellt, dass Google Maps auch im Jahr 2021 noch nicht weiss, auf welcher Seite der Hauptstrasse ein Park und auf welcher ein Wohngebiet ist – die Bewohner hatten keine Postadressen, sondern bekamen ihre Post über Codeanschriften zugestellt, Nicht-Ortsansässige durften die Stadt nur mit Sondergenehmigung, Ausländer überhaupt nicht betreten.
Die Stadt strahlt (haha) heute noch den morbiden Charme verfallender, grössenwahnsinniger Stalin-Prachtbauten aus, den ich auch aus dem Stadtteil meiner Geburtsstadt, in dem ich aufgewachsen bin, kenne. Der grosse Herr Maus fasste es mit „Das ist alles antik, nur nicht echt“ recht treffend zusammen. Am bezeichnendsten für diesen Baustil ist vielleicht das Rathaus von Sillamäe, das mit seinem spitzen Turm einer nordischen evangelischen Kirche ähnelt, ohne die sich die Stadtplaner eine Stadt am Meer nicht vorstellen konnten, obgleich doch Atheismus offizielle Staatsreligion war.
Immerhin sind manche dieser Prachtbauten schon recht hübsch restauriert, Sillamäe hat eine sehr moderne Strandpromenade mit jeder Menge Spielgeräten, Umkleidehäuschen und fest installierten Grillen, und statt einer Urananreicherungsanlage gibt es heutzutage eine Fabrik, die sich auf die Verarbeitung seltener Erden und Metalle spezialisiert hat. Die Arbeitslosigkeit ist trotzdem hoch, die Umwelt vermutlich noch immer verseucht.
Auch in Sillamäe wird überwiegend Russisch gesprochen. Der Ähämann, dem der Rasierschaum ausgegangen war, fand einen kleinen Laden, in dem von Brot und Milch über Drogerieartikel, Klamotten und Süssigkeiten bis zum Wodka alles verkauft wurde – alles in ehemaligen Ostblockstaaten hergestellt – und die Bedienung erfolgte ausschliesslich auf Russisch. Vor der Theke lag die Ladenkatze und räkelte sich in der Sonne, die durch die Eingangstür hereinfiel.
Die nordöstliche Ecke Estlands ist voll von Plätzen, die laut „Nie wieder!“ schreien. Die Schauplätze von Krieg, Vertreibungen, Holocaust, sowjetischer Diktatur und Umweltzerstörung könnte man, so man denn wolle, alle nacheinander an ein, zwei Tagen besuchen, ohne weit fahren zu müssen.
Rund um Kohtla-Nõmme befindet sich ein ausgedehntes Bergbaugebiet mit unter Anderem der höchsten Abraumhalde des Baltikums. (Wir wären gern auf der Rückfahrt von Narva im Abendsonnenschein da raufgestiegen, aber wir fanden den Einstieg nicht.) Der Uranabbau in der Gegend wurde schon 1952 eingestellt, aber bis heute wird Ölschiefer in der Gegend abgebaut und weiterverarbeitet und auch zu Strom und Wärme verbrannt.
(Ein Ort in der Gegend heisst Kiviõli (=Steinöl), was wir genauso lustig fanden wie den Ort Heršpice ein paar Kilometer hinter Austerlitz.)
Im Estnischen Bergbaumuseum kann man sich nicht nur ausgemustertes riesiges Bergbaugerät angucken, sondern auch in einem alten Schacht unter Tage erleben, wie der Ölschieferabbau vonstatten ging. (Oder geht, sehr viel hat sich da nämlich nicht geändert.) Ölschiefer wird sehr knapp unter Tage (oder sogar über Tage) abgebaut, so dass man eher das Gefühl hat, in eine Höhle zu laufen als in ein Bergwerk einzufahren, aber schön fand ich, dass wir alles Gerät, das noch funktionstüchtig ist, vorgeführt bekamen: wir fuhren ein Stück mit einer Grubenbahn, bekamen demonstriert, wie laut so ein Ventilator ist, der nach der Sprengung Rauch und Staub absaugt, und wie sich so ein Schrämlader laut scheppernd vorwärtsbewegt, ohrenbetäubend schon, wenn sich seine Walze nur leer in der Luft dreht statt Gestein aus dem Fels zu kratzen.
Die Spruchbänder mit den sozialistischen Losungen machten offensichtlich auch vor Bergwerksschächten nicht halt: „Wir produzieren ausschliesslich Qualitäts-Ölschiefer“ hängt über der Sortierstation unter Tage.
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Tallinn (2)
In Tallinn kann man die billigsten am wenigsten teuren Corona-Schnelltests in ganz Estland machen lassen.
In einem Kleinbus auf einem Parkplatz an der Ausfallstrasse nach Süden. Das Testpersonal sprach ausschliesslich Russisch. Die Testerin trug ausser einer einfachen medizinischen Maske keinerlei Schutzkleidung, der Mitarbeiter am Computer nicht einmal das.
Die Wartezeit auf das Testergebnis und das Austellen der Visa Testzertifikate verbrachten wir im gegenüber gelegenen Pfannkuchenhaus. Um das Pfannkuchenhaus herum führt die Wendeschleife mehrerer Tallinner Strassenbahnlinien, und wir konnten beim Essen den Strassenbahnen – „Hallo Paula!“, „Hallo Triinu!“, „Hallo Annika!“, „Hallo Sirje!“, „Hallo Kersti!“ – zuwinken.
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Ainaži.
2010 machten wir in Südestland eine Woche Mökkiurlaub. Eines Tages waren wir über Mittag ein bisschen am Strand im Sand buddeln, eine kleine Runde Naturlehrpfad laufen, und danach wollten wir in der nächsten grösseren Stadt mittagessen. Der damals zweijährige grosse Herr Maus sollte vorher aber noch seinen Mittagsschlaf halten, weshalb wir beschlossen, vom Strand aus erst noch der kleinen Landstrasse ein Stückchen weiter nach Süden zu folgen, ehe wir auf die Fernverkehrsstrasse einbiegen und nach Norden Richtung Stadt fahren würden, damit er lange genug Zeit hätte zum Schlafen. Wir fuhren durch verschlafene Dörfer, und als wir durch das dritte davon fuhren, kam uns irgendwas komisch vor. Und tatsächlich – wir befanden uns, ohne dass wir etwas von einer Grenze bemerkt hätten, inzwischen in Lettland!
An diese kleine Strasse und den nicht vorhandenen Grenzübergang erinnerten wir uns diesmal aus zwei Gründen.
Erstens ist der Verkehr auf der E67, der Via Baltica, völlig irre. Auf der zweispurigen Landstrasse fahren die LKWs Stossstange an Stossstange wie auf der rechten Spur einer deutschen Autobahn, es wird halsbrecherisch überholt, auch von Bussen, auch die LKWs sich gegenseitig, und das alles bei Gegenverkehr, der sich genauso verhält, und ohne jegliche Überholspur, manchmal sogar ohne nennenswerten Seitenstreifen, auf den die zu Überholenden ausweichen könnten. Es gibt leider nicht so viele Nord-Süd-Verbindungen im Baltikum, dass man auf eine weniger befahrene Strecke ausweichen könnte, aber wenigstens ab und zu die Gelegenheit, für 20, 30 Kilometer auf kleine Nebenstrassen abzubiegen.
Zweitens braucht man für die Einreise nach Lettland derzeit, wenn man nicht voll geimpft ist, ein negatives Coronatestergebnis. Wenn das von jedem an der Grenze kontrolliert würde, würden wir da bei der Verkehrsdichte sicher ewig im Stau stehen, fürchteten wir. Wir könnten es ja einfach mal probieren, die Grenze statt auf der Via Baltica auf der kleinen Nebenstrasse zu überqueren. Dort wäre ganz sicher nicht so viel los.
Und tatsächlich fanden wir uns ähnlich schnell in Lettland wieder wie vor elf Jahren mit dem schlafenden grossen Herrn Maus im Auto – ohne jegliche Grenzkontrolle. (Schade um die vier – der kleine Herr Maus musste nicht – teuren Coronatests!)
Wir hatten übrigens Glück mit unseren Reisedaten: am Tag nach unserer Einreise nach Lettland stieg sowohl in Estland als auch in Finnland – man weiss ja in so einem Fall immer nicht so richtig, was nun als Einreiseland gilt – die 14-Tage-Inzidenz über den Grenzwert von 75, was bedeutet hätte, dass wir in Lettland in Quarantäne gemusst hätten.
(Tatsächlich hatten wir uns den ganzen Urlaub darauf eingestellt, eventuell in Estland bleiben zu müssen, sollte sich die Coronalage drastisch verschlechtern.)
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Saulkrasti.
Saulkrasti war seit 14 Jahren der Inbegriff unserer Träume. Soweit sie sich auf Strand und Meer bezogen, jedenfalls.
2007 fuhren wir mit dem anderthalbjährigen Fräulein Maus durchs Baltikum und Polen in die Slowakei. Der irre Verkehr auf der Via Baltica setzte damals erst in Polen ein; im Baltikum war es recht ruhig auf den Strassen, dafür wurde überall der Ausbau der E67 vorangetrieben. An einer Baustelle wurden wir durch Saulkrasti umgeleitet, mitten durch den langgestreckten Badeort und am kilometerlangen Strand entlang, der mit seinen Dünen und seinem gelben Sand und dem Meer, das ohne Inseln dazwischen bis zum Horizont reichte, ganz anders als die Strände in Südfinnand, unserer in Mecklenburg geprägten Vorstellung von einem Ostseestrand entsprach. Saulkrasti wäre leichter zu erreichen als Zingst. Lass uns da mal hinfahren, wenn wir mal an einen schönen Strand wollen, sagten wir zueinander.
Es hat 14 Jahre gedauert. Dann aber musste es gleich und sofort sein, obwohl wir abends noch bis nach Riga mussten. Zum Glück sind die Abende lang im Sommer im Norden…!
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Rīga.
Riga war #aufgrundderaktuellensituation genauso leer, wie wir uns das erhofft hatten.
Wir zogen vier Tage lang planlos durch die Altstadt, gingen in jede Kirche, stiegen fuhren auf jeden Turm. Mit Verwunderung sah ich von oben zum ersten Mal, dass Riga nicht nur am Meer liegt, so wie Stockholm oder Helsinki oder Tallinn, sondern an einem mächtigen Strom. Die Daugava kommt direkt aus den weiten Mooren Russlands und Weissrusslands und Lettlands; ihr rübensirupfarbenes Wasser bringt den Moorgeruch mit bis in die Stadt.
Wenn es abends zu dämmern anfing – gegen halb zehn, und das ist für uns sensationell zeitig – gingen wir Cocktails bzw. Milchshakes trinken und danach die beleuchtete Stadt anhimmeln. Wenn die Kinder dann kurz vor Mitternacht im Bett lagen, sassen der Ähämann und ich noch lange auf unserem Balkon über den Dächern der Altstadt, lauschten dem fernen Rauschen des Verkehrs auf der grossen Brücke und dem Geschrei der Möwen, die auf den Dächern ihre Nester haben und noch mitten in der Nacht um die Kirchtürme segeln.
Die Rigaer Strassenbahnen haben übrigens O-Bus-Stromabnehmer.
Ausserdem hat Riga eine sehr beeindruckende Nationalbibliothek; sieben Etagen Bücher in moderner Architektur, das letzte grosse Werk des in Lettland geborenen US-amerikanischen Architekten Gunnar Birkerts. Vom 11. und 12. Stockwerk, dem Krönchen, aus hat man einen sehr schönen Blick über die Daugava auf die Stadt. Dafür hätten wir eigentlich am nächsten Tag nochmal wiederkommen müssen, aber eine freundliche Bibliotheksmitarbeiterin fuhr mit uns, weil so wenig los war – wir haben tatsächlich in dem ganzen riesigen Gebäude ausser uns vielleicht noch sechs Menschen getroffen – doch gleich hoch. Dann brachte sie uns zurück ins 7. Stockwerk, von wo wir Stockwerk für Stockwerk nach unten zurückliefen und staunten. (Die Kinder hatten viel Spass mit den gläsernen Fahrstühlen.)
Die befreundete Deutschlehrerin, die sich immer um unseren Garten kümmert, während wir auf Reisen sind, wofür wir ihre Katzen füttern, wenn sie auf Reisen ist, hatte uns bei der Schlüsselübergabe zuallerletzt noch zugerufen: „Geht unbedingt in die Markthallen hinterm Bahnhof!“ Nun ist es so, dass mein Verhältnis zu Markthallen ein eher ungutes ist. Die Markthalle in meiner Geburtsstadt wurde nach der Wende aufwändig restauriert, hat aber mit einem Markt wenig gemein. Turku bildet sich viel auf seine historische Markthalle ein, aber letztendlich findet man da auch nur die üblichen Kaffeeketten, einen ramschigen Souvenierladen und einen einzigen Fleischstand, der wirklich in die Markthalle passt. Aber die Markthallen in Riga, Leute! Es sind fünf Stück ingesamt, ehemalige Zeppelinhallen der deutschen Wehrmacht, und in jeder gibt es etwas anderes: Obst und Gemüse in der einen, Fisch in einer anderen, Brot, Backwaren und Milchprodukte in der nächsten, in der hintersten werden Textilien verkauft und in der, die ein bisschen abseits steht, Fleisch. Rund um die Markthalle befinden sich, ohne Übertreibung, hunderte Marktstände für Obst und Gemüse. Wir gingen von Stand zu Stand, staunten, kauften ein, radebrechten auf Russisch – denn wie überall im Baltikum ist die russische Minderheit nicht sonderlich beliebt, bestreitet aber jegliche Verkaufsstände quasi allein – freuten uns an der Freundlichkeit und Gesprächigkeit der Verkäufer*innen und hatten am Ende fast einen halben Nachmittag da verbracht.
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Schloss Rundāle.
Mitten im lettischen Nirgendwo, nahe der litauischen Grenze, befinden sich 85 Hektar Versailles.
Auch da waren wir 2007 schon mal. Aber wann hat jemand, der schon lange in Finnland lebt, schon mal die Gelegenheit, ein wirklich prächtiges Schloss zu besichtigen?
Schloss Rundāle liess Zarin Anna Iwanowna 1735 als Sommerresidenz (!) für den deutschbaltischen Herzog von Kurland bauen. Das Schloss hat 138 prächtig eingerichtete Zimmer und Säle, von denen man sehr, sehr viele besichtigen kann. „Wer braucht so viele Zimmer?!“, fragten die Kinder. Es ist purer Grössenwahn.
Hinterher fuhren wir – 30 Kilometer über unbefestigte Landstrassen zwischen Feldern, auf denen Störche staksten und Mähdrescher ihre Runden zogen; kein Dorf, nur Staub und Mittagshitze – in die nächstgrössere Stadt, um etwas zu essen. Die Kellnerin fragte uns nach unserem Woher und Wohin und sagte dann lachend: „Ich bin aus Rundāle! Aber ein Schloss haben wir hier auch. Ein grösseres als in Rundāle.“ „Noch grösser?!“, fragten wir ungläubig. Aber: tatsächlich!
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Jūrmala.
Noch ein Strand. 33 km lang und mit dem feinsten Sand, den wir je an der Ostsee unter den Füssen hatten.
„Können wir bis zum Sonnenuntergang hierbleiben?“, fragte das Fräulein Maus, als wir sowieso schon recht spät da ankamen. Nicht ganz. Dafür kamen sie einfach anderthalb Stunden lang nicht wieder raus aus dem lauwarmen Wasser.
Freilich, der Kompost ist noch gefroren. (Weswegen aus dem Erdesieben und Kompostumsetzen dann doch noch nichts wurde.) In dunklen Ecken liegen noch letzte angegraute Schneereste. Auch der Waldboden ist bis auf die oberste dünne Schicht noch steinhart gefroren.
Aber wir hatten fast 20 Grad. Und Sonnenschein von früh um sechs bis abends um neun. Und wolkenlosen Himmel.
Wir fanden die ersten Gänseblümchen im Garten und die ersten Leberblümchen im Wald. Hummeln und Zitronenfalter torkelten von Blüte zu Blüte. Wir assen alle Mahlzeiten auf der Terrasse. Wir tauschten die dicken Federbetten gegen die dünnen Sommerdecken aus. Ich wusch alle unsere Anoraks und Winterstiefel (Kein Satzbaufehler – unsere kuscheligen finnischen Kinderwinterstiefel kann man in der Waschmaschine waschen!), um sie dann jetzt endgültig wegzuräumen. (Ich war schon mal so weit gekommen, aber dann fuhren wir sechs Stunden übers Meer und verbrachten vier Tage auf Utö, wofür wir beides nochmal dringend brauchten.)
Auf dem Hof ist, wie jedes Jahr, Bullerbü ausgebrochen. Die 15 Nachbarskinder zwischen 6 und 16 verbringen immer noch am liebsten jede warme Minute gemeinsam draussen. (Der 16-Jährige und der 12-Jährige spielen neuerdings draussen gemeinsam Schach.) Am liebsten hätten sich unsere Kinder von Freitagnachmittag bis Sonntagabend nicht von unserem Hof wegbewegt.
Sie waren dann aber doch einverstanden, für zwei, drei Stunden in den Wald mitzukommen, dorthin wo der Berg mit der tollen Aussicht ist und wo wir letztes Jahr waren, als Uusimaa zugemacht wurde.
Die nächste Kaltfront kommt ganz sicher. Am Donnerstag voraussichtlich. Aber fürs erste war der Frühling schon mal ganz wunderbar.
„Wandern…!“, stöhnte der kleine Herr Maus gestern am Frühstückstisch. „Skifahren macht Spass! Aber Wandern…! Ausser in den Bergen. Auf hohe Berge wandern! Und über Felsen klettern! An Seilen und mit Leitern! Das ist toll!“
Tjanun. As close as it gets.
(Der Wanderweg hatte zudem eine unseren Wünschen für den sonnigen Sonntag angemessene Länge. Lang genug, um Sonne, Waldluft und Vogelgezwitscher zu tanken. Kurz genug, um nachmittags noch im Garten werkeln (wir Eltern) und sich mit den Nachbarskindern austoben (die Kinder) zu können. Alle glücklich abends.)
Die Buchten sind noch lückenlos zugefroren. Das Eis trägt nicht mehr – ausser Eisangler und andere Verrückte, von zehn Schutzengeln getragen – aber es liegt als eine solide, blendende Platte auf dem Wasser und lässt den Gedanken, dass in reichlich zwei Monaten schon Sommerferien sind, dass man in reichlich zwei Monaten vielleicht schon wieder im Meer baden kann, völlig absurd erscheinen. Die ersten Leberblümchen im Wald sind nur eine Sinnestäuschung, weil die Sonne so hell strahlt. Im Gegenteil, der Waldboden ist noch viel lückenloser mit Schnee bedeckt, als wir alle – der kleine Herr Maus, der mit Turnschuhen loszog, und wir Eltern, die ihn gewähren liessen – uns vorher vorstellen konnten.