Wenn nicht unsere Vermieter irgendwann angerufen hätten, wo wir denn bleiben, hätten wir vermutlich nach einer Stunde noch auf der Bahnhofsbrücke gestanden und uns den morgendlichen Berufsverkehr auf dem Canal Grande angeguckt.
Mehr noch als über enge Gässchen, schmale Durchgänge und malerische Brückchen über kleine Kanäle habe ich vier Tage lang gejuchzt über Boote voller Wäschesäcke, Bierkästen und Klopapier, über die gelben Krankenboote mit Blaulicht, die grünen Boote der Müllabfuhr, die rot-gelben DHL-Boote voller Briefe und Amazon-Päckchen und sogar über das Friedhofsboot, das einen blumengeschmückten Sarg geladen hatte. Denn alles, wirklich alles, was anderswo auf Strassen bewegt wird, wird in Venedig auf dem Wasser transportiert.
Unsere Vermieter hatten uns geschrieben, wie wir mit dem Vaporetto, also sozusagen dem Bus, vom Bahnhof zur Ferienwohnung gelangen könnten. Aber wir wollten lieber laufen, und wenn wir nicht dauernd hätten stehenbleiben und gucken und fotografieren müssen, wären wir auch in einer Viertelstunde dagewesen.
Dann stellten wir die schweren Rucksäcke ab und machten uns direkt wieder auf den Weg. Ohne Ziel und Plan. Gab es rechts einen schmalen Durchgang, nahmen wir den. Führte nach links eine enge Gasse, bogen wir dort ein. Standen wir plötzlich vor einem Kanal ohne Brücke, kehrten wir um.
Nachdem wir zwei Stunden so ziel- und planlos herumgelaufen waren, kam der Wunsch auf – weil wir in den letzten Herbstferien den „Herrn der Diebe“ gelesen hatten – jetzt zum Markusplatz zu gehen und den Löwen auf der Säule anzugucken.
„Klar“, sagte ich. Und „Ach du Sch…“, dachte ich eine halbe Stunde später, als wir uns mit zweitausend anderen Touristen über die Rialtobrücke kämpfen mussten. Es ist nämlich so, dass es über den Canal Grande, der Venedig in zwei Hälften teil, insgesamt nur vier Brücken gibt, davon zwei gleich am Anfang, eine – die Rialtobrücke – in der Mitte und eine am Ende, und sich dann dort die Touristenströme kanalisieren.
„Venedig ist dreckig und stinkt“, hört man ja öfter. Venedig ist genau dort dreckig und stinkend und unerträglich, wo sich die Touristenströme von der Rialtobrücke zum Markusplatz wälzen. Und zu allem Überfluss – wie kann es anders sein?! – war der Markusplatz aufgebuddelt.
Wir traten fluchtartig den Rückzug an. Denn überall sonst ist Venedig ganz und gar wunderbar und zauberhaft.
Als wir alle schon ganz fusslahm und von der plötzlichen Hitze – einen halben Tag Akklimatisierungszeit brauche sogar ich! – ganz erledigt waren, traten wir den Rückweg zu unserer Ferienwohnung an und legten eine kleine Ruhepause ein. (Der kleine Herr Maus legte sich kurz auf den sehr dicken, weichen Teppich im Schlafzimmer und war nach zwei Minuten eingeschlafen.)
Später gingen wir nochmal zu einem kleinen Supermarkt um die Ecke fünfundzwanzig Ecken, um Abendbrot einzukaufen.
Der kleine Herr Maus und ich warteten draussen und wurden mit der verantwortungsvollen Aufgabe betraut, einen venezianischen Hund im Auge zu behalten, während sein Frauchen kurz einkaufen ging.
Das hat mir gut gefallen, dass die Venezianer*innen die Touristen einfach einbeziehen. „Hilf mir mal hier hoch!“, hatte schon am Morgen eine alte Frau mit Krückstock den Ähämann aufgefordert, ihm den Arm hingehalten und sich über die zwanzig Stufen einer Brücke führen lassen.
Der Teil der Familie, der früher am Abend auf einem Teppich einen Powernap gehalten hatte und nun nicht mehr müde war, bat nach dem Abendbrot darum, nochmal einen Spaziergang zum Canal Grande zu machen. Und solche Wünsche werden in unserer Familie ja selten ausgeschlagen.
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(1) Turku-Stockholm-Hamburg
(2) Hamburg-München-Venedig
(3) Venedig: Gassen, Kanäle und Boote aller Art
(4) Venedig: Busfahren und im Mittelmeer baden
(5) Venedig: Wolkenkratzer und Sargschränke
(6) Venedig: Don Camillo & Peppone, geflügelte Löwen und jede Menge Wäscheleinen
(7) Venedig-München-Berlin
(8) Berlin, Berlin
(9) Berlin-Stockholm-Turku