Neulich lief mir im Stadtzentrum meine ukrainische Finnischkurskollegin Olga über den Weg. „Karen“, rief sie aus, „eine Million Jahre haben wir uns nicht gesehen!“ Stimmt. Ihr grosser Sohn, der damals, als wir den Finnischkurs anfingen, gerade in die Schule gekommen war, hat inzwischen Abitur. Ihre kleine Tochter, mit der sie bei unserem letzten Treffen schwanger war, geht schon in die zweite Klasse.
Das „Wie geht es dir?“ bleibt uns im Hals stecken. Wie soll es gehen, wenn in Europa Krieg ist und eine von uns beiden unmittelbar davon betroffen ist?! Sie starrt auf meinen Peace-Anstecker in ukrainischen Farben neben den beiden Impf-Ansteckern auf meinem Horttantenumhängetäschchen. „Du erforschst immer noch Mäuse und Eichhörnchen?“, fragt sie. „Ach wo, schon seit einer Million Jahren nicht mehr!“, sage ich, und dann frage ich sie, wie ihr ihr neuer Job denn gefalle, denn sie arbeitet als Angestellte der Stadt Turku seit Neuestem nicht mehr in der Touristeninformation, sondern berät ukrainische Geflüchtete. „Ich bin so froh, dass deine Eltern bei dir in Finnland und in Sicherheit sind“, sage ich zu ihr, denn die meisten von uns, die damals gemeinsam im Finnischkurs sassen, treffen sich mindestens noch in verschiedenen sozialen Netzwerken und wissen daher in groben Zügen, was im Leben der Anderen gerade passiert. Sie erzählt mir, dass ihre Eltern eine Woche vor Kriegsausbruch gekommen sind, weil ihr finnischer Mann, der sich sicher war, dass es Krieg geben würde, darauf bestanden hat, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, dass sie mal wieder zu Besuch kämen. „Steht ihr Haus noch?“, frage ich und denke, was für eine absurde Frage. Wir schweigen kurz. „Aber die Deutschen tun so viel für die Ukraine!“, sagt sie, und ich möchte im Boden versinken. „Ich wünschte, den Deutschen wäre es wichtiger, den Krieg nicht mehr mit Gas- und Ölkäufen mitzufinanzieren, statt immer jammernd ihre Wirtschaft vorzuschieben“, sage ich, „zumal es ja auch eine einmalige Chance für den Klimaschutz wäre.“ Von dem Rumgeeiere wegen Waffenlieferungen ganz zu schweigen. So sehr ich selbst eigentlich dagegen bin und mir eine Welt ohne Waffen, ohne Drohungen, ohne Angst wünschte – wie weit kommt man mit Pazifismus, wenn ein alter machtgeiler Mann durchdreht und nicht genug bekommen kann? Für die Finnen ist die Sache einfach: denen steckt der Winterkrieg noch immer in den Knochen, die wissen, wie es sich anfühlt, was auf dem Spiel steht.
Ich wünschte, Geschichte würde sich nicht immer wiederholen.
Zwei Wochen vor Kriegsausbruch hatte ich mich mit meinem russischen Finnischkurskollegen Kirill getroffen. Die Sache, wegen der wir verabredet sind, ist schnell erledigt. Aber wir haben uns lange nicht gesehen und viel zu bereden: wie es uns geht und ergangen ist in den letzten Jahren in unserer gemeinsamen Wahlheimat.
Diesmal erzählen wir uns hauptsächlich kopfschüttelnd Anekdoten über den finnischen Umgang mit Alkohol. Sein Sohn ist so alt wie der grosse Herr Maus, und ab der siebenten Klasse gehören zum unvermeidlichen Fragebogen, der bei Vorsorgeuntersuchungen bei der Schulschwester auszufüllen ist, auch erste Fragen zum Alkohol- und Drogenkonsum. „Bei der Frage, ob er schon mal Alkohol probiert habe, hat er Ja angekreuzt, und daraufhin wurden seine Mutter und ich direkt in die Schule vorgeladen. Aber naja, er hat mich gefragt, wie Wodka schmeckt, und natürlich habe ich ihn probieren lassen. Probieren im Sinne von mal nippen natürlich, und er weiss jetzt, dass ihm Wodka nicht schmeckt, und das ist doch viel besser als wenn er es heimlich mit Freunden ausprobiert und sich direkt besäuft!“ Ich stimme ihm heftig nickend zu. Unsere Kinder haben inzwischen gelernt, diese Fragebögen „korrekt“ zu beantworten. Früher logen sie Zahnärzt*innen auch schon mal direkt ins Gesicht: „Natürlich haben wir einen Karkkipäivä!“, heute erklären sie Schulschwestern selbstbewusst: „Natürlich trinken meine Eltern ab und zu Alkohol. Aber ich habe sie noch nie, wirklich noch nie betrunken erlebt“, wobei sie das „Und jetzt erzähl‘ mir, wie viele finnische Kinder das von ihren Eltern behaupten können!“ diplomatisch runterschlucken.
Aber natürlich landet auch unser Gespräch schnell bei den an der Grenze zur Ukraine aufgefahrenen Panzern. Beim gegenseitigen Säbelrasseln. Wir sind beide im Kalten Krieg aufgewachsen, und wie sehr hatten wir gehofft, wie sehr hatten wir uns nicht vorstellen können, so etwas je wieder erleben zu müssen: das Wettrüsten, die Drohungen mit Atomwaffen, die volksverdummende Propaganda.
(Noch schlimmer als die zerbombten Städte, die vielen Toten und die an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübten Gräueltaten ist für mich an diesem Krieg die unglaublich perfide Rhetorik, mit der das alles gerechtfertigt werden soll: all die plumpen Lügen und Drohungen, all die verdrehten Wahrheiten, wie sie meine ganze Kindheit lang offiziell verbreitet wurden. Die Aussage des von den russischen Besatzern eingesetzten Bürgermeisters von Mariupol vor ein paar Tagen, in die Stadt werde jetzt wieder friedliches Leben einziehen, die Bewohner könnten zurückkommen und anfangen, ihre Vorgärten (Welche Vorgärten?!) aufzuräumen und Scheiben in ihre Fenster (Welche Fenster?!) einzusetzen, ist das vielleicht Nebensächlichste, aber für mich Zynischste, das diese monströse Propagandamaschine bisher ausgespuckt hat.)
Fast amüsiert es uns, dass sich seit unserer Kindheit die Fronten verschoben haben; dass wir damals offiziell auf der gleichen Seite standen, heute eine*r von uns, je nachdem, wessen Reden man Glauben schenkt, unweigerlich auf der bösen gegnerischen.
„Ich schäme mich, Russe zu sein“, hat Kirill zwei Wochen vor Kriegsausbruch gesagt. „Und ich kenne auch keinen Russen, der Putins Politik gut findet. Aber gut, die Russen, die ich kenne, leben auch nicht mehr in Russland“, hat er lachend hinzugesetzt. Dann haben wir geseufzt, uns zum Abschied umarmt und das Beste gehofft.