Ich würde gern öfter finnische Bücher lesen. Aber entweder habe ich kein gutes Händchen, wenn ich in der Bibliothek vor den langen Regalreihen stehe und mich für eins entscheiden soll, oder finnische Literatur ist wirklich so, wie sie mir nach dem Lesen der ungefähr zehn finnischen Bücher, die ich las, bevor ich es nicht mehr ertragen konnte, erschien: düster und melancholisch. Die Menschen in diesen Büchern litten an Depressionen, der Wirtschaftskrise, Ehescheidungen, nichtrückzahlbaren Wohnungskrediten, es ging um Kinder, die vernachlässigt und misshandelt werden, um Morde aus Eifersucht, um den Winterkrieg, um religiösen Fanatismus. Bevor ich selbst ganz deprimiert werden konnte, beschloss ich, ein für alle Mal die Finger von finnischen Büchern zu lassen.
Das heisst, dieses eine, hochgelobte, über den Vater, der plötzlich mit seinem erst ein paar Tage alten Säugling allein dasteht, für das wollte ich nochmal eine Ausnahme machen. Nur war das leider jahrelang immer ausgeliehen. Bis es mir vor kurzem wieder einfiel – und es tatsächlich im Bibliotheksregal stand. (Zwischen all den Schulden-, Krankheits- und Mordgeschichten.)
Nein, auch dieses Buch ist kein Friede-Freude-Eierkuchen-Buch. Aber es ist ein… grundpositives Buch. Eins, aus dem man, würde man es in ein Drehbuch umarbeiten, eine klaumaukische Komödie genauso machen könnte wie einen berührenden Vater-Sohn-Film. Ich musste beim Lesen abwechselnd schmunzeln, lauthals lachen, war gerührt und hatte Gänsehaut.
Ich habe beim Lesen oft gedacht: das Buch sollte man mal ins Deutsche übersetzen; anstelle der achthundertdreiundfünfzig finnischen Krimis und der sechsundneunzig Paasilinna-Romane, die ja doch alle immer wieder nur vom finnischen Mann und dem Bär handeln.
Und dann habe ich gedacht: würde das überhaupt funktionieren? Hat nicht einen Grossteil meines Lesevergnügens die Tatsache ausgemacht, dass ich mich in dem Buch wiedergefunden habe? Mich, mit den Mäusekindern im Mutterschutz, hier in Finnland. Können sich deutsche Eltern genauso kringelig lachen über die Gespräche zwischen Antti und Paavos Neuvolatante? Erkennen die sich auch wieder, wenn sich fünfzehn Mütter zur Krabbelgruppe treffen und alle ihre Kinder aus den genau gleichen Kinderwagenschlafsäcken und Schneeanzügen pellen, denen aus der Kela-Kiste nämlich? Wissen die, was Paavo verabreicht bekommt, wenn Antti ihm Jekovit und Rela-Tropfen gibt?
Nicht. Das ist es eben. Genauso, wie ich mich nie hundertprozentig einfühlen kann in Blogbeiträge, Diskussionen und deutsche Bücher zum gleichen Thema.
Ich wusste schon nach den ersten Seiten, dass ich dieses Buch nicht einfach so der Bibliothek zurückgeben kann. Dass ich das selbst haben muss. Zur Erinnerung. Daran, wie das war, damals, als die Mäusekinder in Finnland Babys waren.
Eve Hietamies „Yösyöttö“. Otava, 2010. Gebundene Ausgabe, 383 Seiten.