Und dann begann der letzte Teil der Reise, der uns unweigerlich zurückbringen würde in den Norden, den Herbst, den Alltag.
Über den Berliner Hauptbahnhof bin ich übrigens noch zu keiner abschliessenden Meinung gekommen.
Dieser letzte Teil der Zugreise aber war ganz sicher der erholsamste.
Der Snälltåget ist ein privates schwedisches Unternehmen, weswegen er nur an solchen Tagen fährt, an denen er mit hoher Wahrscheinlichkeiten ausgelastet ist, und die Fahrkarten immer erst recht kurzfristig buchbar sind. Der Ähämann hatte im Spätsommer mehrere Wochen lang immer wieder über den Buchungsseiten gesessen, weil wir hofften, doch noch mit dem Snälltåget fahren zu können, weil der direkt ab Berlin fährt und nicht wie der Euronight der Schwedischen Bahn ab Hamburg, was für uns nochmal umsteigen zu müssen, weniger Zeit in Berlin zu haben und wieder erst um Mitternacht ins Bett zu kommen bedeutet hätte.
Zum Glück (!) war der Plan aufgegangen, und so setzten wir uns erstmal gemütlich hin und verspeisten das im Bahnhofssupermarkt zusammengekaufte Abendbrot, dann klappten wir die Betten runter und bezogen Decken und Kopfkissen – das muss man im Liegewagen selbst machen, dafür sind die Liegeabteile grösser und wir konnten alle zusammen in einem reisen – dann gingen wir Zähneputzen und aufs Klo, zogen uns die Schlafanzüge an und lagen in Hamburg schon im Bett.
Apropos Betten. Der Snälltåget ist ein echter Retrozug: mit ehemaligen Liegewagen der Deutschen Bahn, und von Berlin bis Padborg wurde er von einer 112 gezogen. Dafür gab es viermal so viele und doppelt so moderne Lademöglichkeiten wie im ICE4 (wo sich tatsächlich im Jahr 2022 noch zwei Passagiere eine Steckdose teilen müssen und zwei von drei Steckdosen kaputt waren).
Ich wurde zufällig wach, als wir über die Rendsburger Hochbrücke fuhren, und fand es trotz der mitternächtlichen Dunkelheit wieder sehr faszinierend, so hoch über den Strassenlaternen und den letzten noch beleuchteten Wohnzimmerfenstern dahinzugleiten.
Zweimal pro Waggon hingen übrigens Sicherheitshinweise aus, auf denen genauestens erklärt wurde, wie man im Notfall alle längeren Brücken und Tunnel, durch die der Zug zwischen Berlin und Stockholm fährt – die Rendsburger Hochbrücke, der Tunnel und die Brücke über den Grossen Belt, der Tunnel und die Brücke über den Öresund – verlassen kann. Ausser natürlich, dass die Rendsburger Hochbrücke „nur mit Hilfe von Rettungskräften verlassen werden kann“. Zum Glück leide ich nicht unter Höhenangst.
Um eins hämmerte der dänische Grenzschutz an die Tür. (Schengen wäre theoretisch eine feine Sache!) Es mussten diesmal keine Kinder geweckt werden, dafür fragte der Grenzbeamte, nachdem er sich gründlich unsere finnischen (!) Pässe angeguckt hatte: „Ihr seid eine Familie? Ihr reist nach Schweden? Ihr macht da Urlaub?“ Das war fast so schön wie 2020, als der dänische Grenzschutz direkt hinter der Fähre aus Island gestanden hatte, um die – damals coronabedingte – Passkontrolle durchzuführen und gefragt hatte: „Wo kommen Sie her?“
Die dänische Mitleserin und die deutschen Dänemarkliebhaber*innen mögen mir verzeihen, aber ich halte Dänemark für kein erstrebenswertes Reiseland.
Das nächste Mal wurden wir früh um sieben geweckt, als der Zug in Malmö einlief und wie auf der „Nils Dacke“ minutenlange Ankündigungen in drei verschiedenen Sprachen durchgesagt wurden. Die Kinder und ich nutzten die Gelegenheit, um gemeinsam zur Toilette zu gehen und gleichzeitig ein bisschen frische Luft zu schnappen. (Fast kam sowas wieTranssib-Feeling auf, als wir im Schlafanzug bei weit geöffneten Zugtüren quasi auf dem Bahnsteig standen.) Dann legten wir uns wieder hin, und als ich um zehn endgültig aufwachte, war ich trotz der ein wenig unruhigen Nacht komplett ausgeschlafen.
Wir klappten die untersten Betten wieder hoch, holten uns vom Schaffner einen Kaffee und packten unser am Vorabend bei einem Berliner Bahnhofsbäcker gekauftes Frühstück aus. Und liessen uns vier weitere Stunden durch herbstliche Landschaft schaukeln.
Ich wiederhole mich, aber das war sicher die erholsamste und angenehmste Art, einen über tausend Kilometer langen Reiseabschnitt hinter uns zu bringen, die wir je erlebt haben.
Und sollte der Snälltåget nächsten Sommer wirklich bis nach Dresden fahren, wären das in der Tat fantastische Aussichten!
In Stockholm war es vergleichsweise eisig kalt (8Grad), aber sonnig. Wir holten Jacken und Halstücher wieder aus den Rucksäcken und schlossen die Rucksäcke – zum zehnfachen Preis dessen, was wir in München dafür bezahlt hatten – für drei Stunden am Bahnhof ein.
Wir wollten den Nachmittag nutzen, um auf den Rathausturm zu steigen. Dort wurden wir aber beschieden, dass das nur in den Sommermonaten möglich sei. Ach, die Nordländer mit ihren Sommermonaten, in denen das Leben stattzufinden hat, und dem Rest des Jahres, in dem man zu Hause bleiben muss…! Also lenkten wir unsere Schritte wieder in die Altstadt, die Mägen knurrten uns nämlich auch.
Dann holten wir die Rucksäcke wieder aus den Schliessfächern und aus den Rucksäcken auch noch Mützen und Handschuhe und machten uns zu Fuss auf den Weg zum Fährterminal.
Leider nicht zur „Amorella“.
Ich hatte ja von Anfang an zwiespältige Gefühle für das chinesische Schiff, aber dann dachte ich, vielleicht ist sie ja doch ganz schön geworden. Leider nein. „Die Glory hat alles, was man nicht braucht“, kommentierte jemand auf Instagram – und das war genau der Gedanke, den ich nach dem Betreten des Schiffes als erstes gehabt hatte. Zumindest, wenn einem andere Dinge wichtig sind als Shoppen, Saufen und Karaoke singen.
Die Inneneinrichtung hat leider überhaupt nichts von nordischem Design, sondern ist… nun ja… chinesisch.
Das Schlimmste aber ist das Sonnendeck, das nicht nur unglaublich klein ist, sondern auch den Charme eines Fabrikhinterhofs hat. (Zum Vergleich: auf dem riesigen, zweistöckigen Oberdeck der „Grace“ gibt es sogar ein Klettergerüst und eine aufgemalte Rennstrecke, die man im Sommer mit Tretautos befahren kann und auf der zu jeder Jahreszeit die Teenager und Fast-Teenager unserer Familie immer noch um die Wette rennen.)
Auf Frühstück mussten wir leider auch verzichten, da es im Café nur überteuerte Sachen – also noch überteuertere Sachen als auf den anderen Fähren – gab und uns nicht mal die finnische Alternative Haferbrei blieb, da Puuro auf der „Glory“ schlicht nicht vorgesehen ist. Und das ist nun das Schiff, das uns fortan aus jedem Urlaub nach Hause bringen soll…! Seufz.
In Turku waren zwei Grad minus, weswegen wir vorm Landgang auch noch die Wollpullover aus den Rucksäcken holen mussten. Der Schock war dann aber gar nicht so gross. Vielleicht war der glitzernde Raureif in der aufgehenden Sonne auch einfach nur zu schön.
Das Fräulein Maus ging direkt vom Hafen aus zur Schule, die Herren Maus mit Umweg über zu Hause. Das war allermaximalste Ferienausnutzung, und bis heute fragen wir uns manchmal, wenn wir an die Reise zurückdenken: Hatten wir vielleicht doch drei statt einer Woche Herbstferien?!
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(1) Turku-Stockholm-Hamburg
(2) Hamburg-München-Venedig
(3) Venedig: Gassen, Kanäle und Boote aller Art
(4) Venedig: Busfahren und im Mittelmeer baden
(5) Venedig: Wolkenkratzer und Sargschränke
(6) Venedig: Don Camillo & Peppone, geflügelte Löwen und jede Menge Wäscheleinen
(7) Venedig-München-Berlin
(8) Berlin, Berlin
(9) Berlin-Stockholm-Turku