Am Samstag war das Fräulein Maus zu einer Geburtstagsfeier bei einem Mädchen aus dem Kindergarten eingeladen, gern mit Eltern. Gern ging ich mit, denn, ich gestehe, ich war vor allem neugierig. Denn das Geburtstagskind ist eine kleine Mustalainen, eine Roma. (Die Diskussion, ob die Benutzung des Wortes Mustalainen – Zigeuner – politisch korrekt ist, gibt es natürlich auch hier. Aber vielleicht sollte man erwähnen, dass sogar die Mustalaiset selbst als solche von sich sprechen, und nicht als Romanit.)
Man hört ja so einiges: wie dreckig es vor den Wohnungen der Roma aussieht, aber wie ordentlich und prunkvoll innen, wie machohaft sich die Männer aufführen, was für schlimme Schimpfworte sich die Roma an den Kopf werfen… Ich mache mir da ja lieber mein eigenes Bild.
Wir fahren also hin, klingeln – die Mutter kenne ich übrigens schon lange vom Sehen und von dem einen oder anderen gewechselten Wort im Bus – und werden freudig begrüsst mit den Worten: „Aber die Geburtstagsfeier war gestern!“.
(Das war leider nicht das erste Mal: einst war ich eingeladen auf eine Karonkka, eine Doktorparty. Schon lange, bevor der Termin feststand. Als der Termin feststand, bekam ich ihn mitgeteilt. Mündlich. Am soundsovielten, einem Samstag, wie üblich. Ich schrieb’s in den Kalender. Ein paar Wochen später bekam ich die offizielle Einladung per Post. Ich überflog sie und legte sie beiseite. Den Termin hatte ich mir ja schon aufgeschrieben. Am Freitag vorher, abends, sehr spät, schaute ich noch kurz bei Facebook vorbei, bevor ich den Computer ausschalten wollte. Da gratulierten auf einmal alle der Bekannten, deren Karonkka am nächsten Tag sein sollte, zur tollen Verteidigung und wünschten eine schöne Party heute Abend. Sie hatte den Termin dann doch noch von Samstag auf Freitag verlegt. Das hätte ich wissen können, wenn ich die Einladung gelesen hätte. Hab ich aber nicht.)
Gestern also. Ich würde jetzt gern vor der Frau, noch mehr aber vor dem Fräulein Maus, in den Boden versinken. „Aber das macht gar nichts!“, beteuert sie, „kommt rein, wir haben noch ganz viel Kuchen übrig, ich setze gleich Kaffee auf!“ Ich stammele mehrere Entschuldigungen, von wegen Gleich-in-Kalender-geschrieben-aber-am-falschen-Tag. Die Mutter winkt ab, sowas kann ja passieren.
„Guck, Ansselika, wer da ist!“, ruft sie. (Ansselika ist nicht der wirkliche Name des Mädchens, sondern das, was die Finnen draus machen. Oft haben die Roma ganz normale finnische Namen, manchmal finnisch aussehende, oft aber auch recht exotisch klingende.) Ich bin froh, dass das Fräulein Maus die Gelegenheit bekommt, ihr Geschenk und vor allem die liebevoll selbstgemalte Karte zu überreichen. Wir ziehen Schuhe und Jacken aus und werden nochmals energisch hereingewunken. „Gut, dass ihr da seid, wir haben nämlich heute auch Gäste!“, sagt Ansselikas Mutter, „wir haben ganz viel Familie da, und guck“ – es hat geklingelt – „unsere Nachbarn kommen auch!“ Gedränge im Flur, das Fräulein Maus wird von Ansselika an die Hand genommen und zu irgendeinem Spiel gezogen, Ansselikas Mutter ruft aus der Küche: „Ich setze nur schnell Kaffee auf, dann stelle ich dir meine Familie vor!“
Viele Kinder springen durcheinander, eins hübscher als das andere, eins schläft im Schneeanzug auf dem Sofa. Das Fräulein Maus und Ansselika tanzen im Flur ihre eigene Version von Ringelringelreihe. Einen winzigen, acht Wochen alten Welpen gibt es auch.
Ansselikas Mutter stellt mir ihre Familie vor – bald schwirrt mir der Kopf: da gibt es „Töchter meines Mannes“, „Kinder meiner Kusine“, Ansselikas grosse Geschwister. Auf einem Sofa fläzt sich ein Mann in blütenweissem, tadellos gebügeltem, Hemd, breiten schwarzen Hosenträgern, schwarzer Hose und schwarzen Lederschuhen und winkt mir fröhlich zu, als Ansselikas Mutter ihn als ihren Mann vorstellt. Die Kusine und die grossen Töchter stehen oder sitzen hoheitsvoll in ihren Samtkleidern herum.
Die finnischen Roma kleiden sich nämlich– als einzige Roma auf der Welt! – auffallend anders als die Bevölkerung des Landes, in dem sie leben. Die Frauen tragen – auch im Alltag! – Kleider aus Samt, Spitze und Pailletten. Die Männer tragen Hemd, Bundfaltenhose, schwarze Halbschuhe und diese Jacken mit Reissverschluss und Kragen. In den ersten Jahren in Finnland war ich jedes Mal sehr verwundert, wenn ich die Roma untereinander finnisch reden hörte: in Zeiten moderner Völkerwanderungen hat man sich daran gewöhnt, dass Menschen, die sich deutlich anders kleiden, auch eine andere Sprache sprechen. Dabei leben die finnischen Roma schon seit 500 Jahren in Finnland (und zum Teil in Schweden).
Der Welpe hat der grossen Tochter auf den Samtrock gepinkelt. Sie nimmt’s gelassen und geht ins Bad. Ansselikas Mutter – die ich übrigens noch nie im Samtkleid gesehen habe, aber immer im langen, schwarzen Rock – bittet zu Tisch. Es gibt Sahnetorte, wie auf jedem finnischen Fest, Kaffee, Unmengen von Süssigkeiten für die Kinder, und ich muss sehr schmunzeln, als ich gefragt werde: „Ist rote Milch okay? Wir trinken nur die rote Milch.“ (Also Vollmilch. Während von Finnen ja die fettfreie Variante bevorzugt wird.)
Der anderthalbjährige Nachbarsjunge, der in seinem kurzen finnischen Leben bisher bestimmt noch nicht viele Süssigkeiten zu kosten bekommen hat, frisst isst eine ganze Suppenschüssel Süssigkeiten leer. Das Fräulein Maus verschwindet lieber wieder mit Ansselika zum Spielen. Zwischendurch streichelt sie schüchtern den Welpen, der es sich bei Ansselikas grosser Schwester auf der breiten Hüfte, die so ein Romakleid macht, gemütlich gemacht hat.
Wie das so ist mit ethnischen Minderheiten, sind auch die Roma nicht sooo beliebt. Zum Teil aus Vorurteil, zum Teil vielleicht auch berechtigt. Hat ja alles zwei Seiten.
Wir hatten einmal dem grossen Herrn Maus im grossen Einkaufszentrum einen Schirm gekauft. Den riss ihm in der Spielecke ein kleiner Romajunge prompt aus der Hand und rannte damit fort. Ich, Löwenmutter, erlaubte mir, da sonst keiner einschritt, dem Jungen den Schirm wieder aus der Hand zu nehmen. Woraufhin ich von seiner Mutter und ihrer Bekannten aufs Übelste beschimpft wurde. Ich habe ein bisschen zurückgeschimpft (Aber hallo!), aber geeinigt haben wir uns nicht. Uns blieb nur, die keifenden Weiber einfach stehenzulassen. Danach hatte ich erstmal eine Weile genug von Frauen in Samtkleidern.
Wir Frauen in der Küche reden übers Wohnen. Zu siebent wohnt Ansselikas Familie – die drei grossen Schwestern teilen sich ein Zimmer, der Bruder hat ein winziges eigenes, Ansselika schläft im Elternschlafzimmer. Unglaublich aufgeräumt sieht es aus. All der Kram für so viele Leute, denke ich, wo packen die den hin? „Habt ihr neue Sofas?“, fragt die Nachbarin. Drei gewaltige Plüschsofas stehen im Wohnzimmer, drüber hängen zwei Kristalllüster, und natürlich gibt es einen riesigen Fernseher, der – wie in fast jedem finnischen Haushalt – an ist. „Ja, endlich mal was Neues!“, sagt Ansselikas Mutter. „Immer hatten wir weinrote Sofas. Ich konnt’s schon gar nicht mehr sehen!“ stöhnt sie.
Und dann reden wir natürlich über Familie. Noch mehr Namen, noch mehr Familienverhältnisse. Dass die Kusine, die mit ihren Kindern da war und inzwischen gegangen ist, gerade ihrem Mann davongelaufen ist, weil er sie misshandelt hat. „Ganz richtig hat sie das gemacht!“, sagt Ansselikas Mutter. Wieso wir nach Finnland gekommen sind, ob wir bleiben wollen, warum. Darüber, wieviel einfacher es hier mit Kindern ist als in Deutschland. Über Kinderfreundlichkeit und Betreuungsplätze. Ein bisschen auch über die doofe neue Kindergartenchefin und das unmögliche Hochsicherheitssystem im Kindergarten.
Ansselikas Mutter kramt ein Bild aus dem Schrank, das Ansselikas grosse Schwester vor ein paar Jahren in der Vorschule gemalt hat. „Meine Familie“ steht darüber. Abgebildet sind mindestens zehn Leute: auch der grosse Halbbruder, der schon eine eigene Wohnung hat, aber oft vorbeikommt, auch der andere grosse Halbbruder, der schon seit Jahren in Schweden wohnt. Alle sind mit Namen versehen. Untendrunter steht: „Wir sind immer zusammen.“
Kinder kommen in die Küche und gehen wieder, werden angehört, zurechtgewiesen, auf den Schoss genommen, bekommen Süssigkeiten gereicht. Es ist ganz so, wie in jeder finnischen Familie. Nur viel lockerer und offener.
„Aber Mama!“, sagt das Fräulein Maus empört, als ich zum Aufbruch rufe. „Wir haben ja nur gegessen und Ringelreihe gespielt, gar nicht richtig Geburtstag gefeiert! Nur gegessen und Ringelreihe gespielt!“ „Alles meine Schuld!“ gestehe ich ihr nochmal zerknirscht. „Aber schön war’s doch trotzdem?“ „Ja!“, strahlt sie.
Der kleine Hund, und dass Ansselikas Papa zu Hause so feine Sachen anhatte, das beschäftigt sie noch lange.