Dienstag, 18. Juli 2023
Der lange Ritt nach Hause begann in Pisa Centrale um 12:34 Uhr.
Wir waren alle wehmütig, denn von nun an würde es unweigerlich nach Hause und die Reise zu Ende gehen.
(Ich hatte vorher gedacht, dass wir irgendwann vielleicht doch genug haben würden vom Zugfahren, vom Nomadenleben, von immer neuen Städten. Aber jede neue Zugfahrt, jede neue Stadt war wieder toll. Das hätten wir noch eine Weile so weitermachen können. Ausserdem fühlte sich dieser Urlaub viel länger an als alle Urlaube sonst: War das wirklich auf dieser Reise, dass wir in Wien waren?! Vor drei Wochen erst sollen wir in Bukarest gewesen sein?!)
Die Fahrt mit der Regionalbahn nach Le Spezia dauerte nur eine Stunde.
Trotzdem hatten wir danach schon wieder Hunger.
Da traf es sich gut, dass es in La Spezia ein Bahnhofsrestaurant gibt, das Tische auf Bahnsteig 1 stehen hat; man kann lecker Pizza essen und dabei Züge gucken. ♥
Danach suchten wir einen nahegelegenen Supermarkt auf, um Proviant für die anstehende Nachtzugfahrt zu besorgen. Der Ähämann bestand darauf, mir eine Flasche Limoncello nach Hause zu tragen.
(Es ist nämlich so, dass ich einst eine italienische Mitdoktorandin hatte, zu deren Doktorfeier ihre italienische Familie nicht nur kistenweise Wein, sondern auch viele Flaschen Limoncello nach Finnland mitbrachte, und seitdem muss ich leider bei jeder Fährüberfahrt eine neue Flasche kaufen. Oder – die bessere Alternative – bei jeder Reise nach Italien.)
Dann assen wir ein allerletztes Abschiedseis.
Und dann gingen wir zurück zum Bahnhof und warteten auf den Zug nach München, obwohl wir eigentlich lieber wieder in die andere Richtung davongefahren wären.
Der Zug kam erst zwei Minuten vor Abfahrt, und von der fröhlichen Klassenfahrtatmosphäre, die wir im Herbst im Nachtzug von München nach Venedig erlebt hatten, war diesmal nichts zu spüren. Die Schaffnerinnen ranzten uns erstmal prophylaktisch wegen allem und jedem an; die eine der beiden entschuldigte sich schliesslich mit Stress und Überarbeitung und zu straffen Fahrplänen, die andere hörte praktisch bis zur Ankunft in München nicht auf zu meckern. (Sekt gab’s auch nur auf ausdrückliche Nachfrage.)
Wir gingen, nach der Wanderung zum Bahnhof in Pisa und den paar hundert Metern Spaziergang zum Supermarkt in La Spezia schon wieder völlig nassgeschwitzt, erstmal duschen. Das geht zum Glück auch im Zug.
(Generell ist mir aufgefallen, dass in Schlaf- und Liegewagen die gemeinsam genutzten Sanitäranlagen sehr viel weniger eingesaut sind als in Sitzwaggons; vermutlich, weil sich alle Passagier*innen darüber im Klaren sind, dass sie für eine lange Zeit darauf angewiesen sind.)
Zwischen La Spezia und Genua befindet sich ein landschaftlich besonders schönes Stück Eisenbahn: wir fuhren abwechselnd immer am Meer entlang oder den Leuten durch ihre Hinterhöfe. Das zu fotografieren war allerdings schwer, denn immer, wenn man gerade auf den Auslöser drücken wollte, wurde der Blick durch den nächsten Tunnel oder die Säulen der nächsten Galerie verdeckt.
Dann ging es in die Berge und durch den ersten Regenschauer seit Sofia. Noch vor Mailand, wo das Fräulein Maus und ich noch eine Mitfahrerin in unser Dreierabteil bekommen sollten, hatten wir Zähne geputzt, Schlafanzüge angezogen, unser Gepäck verstaut, die Reisepässe bereitgelegt und uns hingelegt.
Mittwoch, 19. Juli 2023
Beim Frühstück kamen wir mit unserer in Mailand zugestiegenen italienischen Mitfahrerin über unser Woher und Wohin ins Gespräch. Als sie hörte, dass wir in Finnland wohnen, sagte sie gleich: „Ihr habt ja jetzt auch so eine rechte Regierung.“ Augenrollend erörterten wir, wie es dazu kommen konnte, dass solche Vollpfosten gewählt werden:
„In Italien denken alle, egal, wer an der Regierung ist, das sind sowieso alles Diebe.“
„Und in Finnland denken alle, bei uns wird es schon nicht so schlimm werden, egal, wer an der Regierung ist.“
Die deutsche Bundespolizei machte an der Grenze diesmal nur Stichproben; wobei diese ja keine echten Stichproben sind, sondern sich schon immer nur auf augenscheinlich Nicht-Deutsche beziehen, was ich noch mehr zum Kotzen finde als Passkontrollen für alle innerhalb des Schengen-Gebiets.
Unsere italienische Mitfahrererin erzählte uns von ihrer Grosstante, einer Nonne, die im zweiten Weltkrieg mal in einem Abteil gereist ist, in dem sich ein junger Mann unter den Sitzen versteckt hatte, und wie sie und ihre Ordensschwestern bei einer Polizeikontrolle ihre Röcke ausgebreitet haben und der Mann tatsächlich nicht entdeckt worden ist. ♥
In München traf uns zum ersten Mal seit Wochen nach dem Aussteigen keine heisse Wand; im Gegenteil, es war ziemlich kühl und ich hätte fast meinen zuletzt auf der Fahrt durch die Karpaten benutzten Pullover von ganz unten aus dem Rucksack gekramt.
Nach dem Zug nach Berlin musste diesmal auch nicht erst gefahndet werden. Wir rauschten in vier Stunden recht unspektulär einmal durch halb Deutschland; der kleine Herr Maus freute sich sehr, als der ICE auf der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke durch den Thüringer Wald dann doch endlich mal 300 km/h fuhr und ihm damit zu einem neuen persönlichen Rekord verhalf.
In Berlin angekommen, freuten wir uns erstmal wieder sehr über die Bargeldgesellschaft: Schliessfachbenutzung nur mit Münzen („Kein Rückgeld!“), und selbstverständlich waren alle drei daneben befindlichen Münzwechsler defekt und die Verkäufer*innen der umliegenden Geschäfte genervt. Aber Hauptsache, es heisst nicht mehr Schliessfächer, sondern Gepäckcenter…!!!
Nachdem der Ähämann die Misere durch den Erwerb zweier Streuselschnecken an zwei verschiedenen Backständen gelöst hatte, fuhren wir mit der U-Bahn zum Alexanderplatz, denn die Kinder Jugendlichen wollten noch ein bisschen im Alexa shoppen.
Abendbrot beim Steh-Taiwanesen, zurück mit der U-Bahn, letzter Proviantkauf im Bahnhofs-Supermarkt und bei einem der vielen Bahnhofsbäcker.
Und dann hatte sich der Kreis geschlossen.
(Obgleich wir noch einen Tag und zwei Nächte Reise vor uns hatten).
Der Snälltåget fährt immer von Gleis 14, und das ist ist prima, denn Gleis14 hat im Gegensatz zum Tiefbahnhof Aussicht bis zum Fernsehturm und auf S-Bahnen und jede Menge Züge von Regionalbahn bis ICE. Manchmal fahren vier oder fünf Züge gleichzeitig und man kommt sich vor wie auf einer Modellbahnanlage.
Der Anfang der Fahrt verlief ein bisschen schleppend und wir mussten ziemlich oft anhalten, um Gegenverkehr durchzulassen. Zwischendurch bat die Schaffnerin darum, wegen eines in Kürze zu erwartenden Gewittergusses die Fenster zu schliessen. Als der durch war, mussten wir wieder anhalten, diesmal in Stendal, und der kleine Herr Maus sagte: „Mach mal das Fenster nochmal auf, ich will die gute Stendaler Luft riechen!“, und tatsächlich roch es genau so, wie es in Deutschland riecht im Sommer auf dem Lande, und wir wurden alle noch ein bisschen wehmütiger.
Dann – wir sind inzwischen völlig routiniert darin – Gepäcktetris, Bettenrichten, Zähneputzen im schaukelnden Gang mit Blick auf in der Dämmerung aus den Feldern aufsteigenden Nebel und rotblinkende Windräder.
Der Ähämann wollte eigentlich den planmässigen Aufenthalt in Hamburg nutzen, um eine leere Pfandflasche und zwei leere Pfand-Joghurtgläser auf den Bahnsteig zu stellen, aber noch vor Hamburg waren wir alle fünf fest eingeschlafen und schaukelten dem Norden zu.
Donnerstag, 20. Juli 2023
Ich wachte kurz davon auf, dass der Ähämann – „Wir sind in Padborg! Gleich kommen die Dänen!“ – in meinem Rucksack nach unseren Pässen grub, die ich allerdings vorsorglich schon griffbereit zurechtgelegt hatte. Dankenswerterweise blieben wir diesmal jedoch, trotz Ankündigung, von der dänischen Passkontrolle ebenso verschont wie von der ausführlichen Anschlüsse-Durchsage in drei Sprachen früh halb sieben in Malmö, so dass wir – von einmal kurz aufstehen und aufs Klo gehen abgesehen – bis halb zehn durchschlafen konnten. Danach Streuselschneckenfrühstück und faules Rumgeliege bis zur Ankunft um 14:10 Uhr in Stockholm.
In Stockholm war es ziemlich frisch, nur 18 Grad; und das war wirklich saukalt, wenn man bedenkt, dass wir zwei Tage vorher noch 20 Grad mehr gehabt hatten. Die Luft war ganz klar und die Farben ganz kräftig, und das alles zusammen fühlte sich echt wie – NEIN!!! – Frühherbst an.
Dann bestiegen wir die „Glory“ und gingen auf Wunsch der Herren Maus vor dem Schlafengehen noch das Schiff erkunden – aber es bleibt dabei, die in China gebaute „Glory“ ist einfach kein schönes Schiff. Sogar die Dinge, die eigentlich baugleich sind mit denen auf der „Grace“, sind auf der „Glory“ unpraktischer / schlechter verarbeitet / hässlicher.
Freitag, 21. Juli 2023
Wir schliefen wie die Ratze und wachten erst auf, als wir eine Stunde vor Ankunft in Turku geweckt wurden. Das war allerdings immer noch viel zu zeitig, denn wir brauchten ja nur eine Viertelstunde, um uns anzuziehen und das Schiff zu verlassen. Frühstück konnten wir ja zu Hause essen.
Als wir beim Umsteigen am Markt, der julibedingt noch ganz still und leise war, von einem Bussteig zum anderen liefen und ich gewohnheitsmässig an der roten Ampel stehenblieb, obwohl weit und breit kein Auto zu sehen war, sagte der grosse Maus mit leisem Vorwurf in der Stimme: „Weisst du noch, wie wir in Istanbul über die Strasse gegangen sind?!“
Eine halbe Stunde später waren wir zu Hause und versammelten uns, noch bevor wir den Frühstückstisch deckten, andächtig vor der vor fünf Monaten aufgehängten Karte, deren Fähnchen und Fädchen, die viereinhalb Wochen vorher noch nur vage Vorstellungen gewesen waren, sich alle in unvorstellbar schöne Erinnerungen verwandelt hatten.
Das war die tollste Reise, die wir je gemacht haben!
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(1) Turku-Stockholm-Berlin-Prag
(2) Prag
(3) Prag-Wien
(4) Wien
(5) Wien-Bukarest
(6) Bukarest
(7) Bukarest-Istanbul
(8) Istanbul
(9) Istanbul-Sofia
(10) Sofia
(11) Sofia-Athen
(12) Athen
(13) Kineta
(14) Kineta-Patras-Bari-Rom
(15) Rom
(16) Florenz
(17) Pisa
(18) Pisa-La Spezia-München-Berlin-Stockholm-Turku