Suomalainen Päiväkirja

Live aus Turku

Wollsocken im Klassenzimmer (2)

7 Kommentare

Weil mich von Zeit zu Zeit die immer gleichen Fragen per Mail erreichen – und der Dauerbrenner sind immer noch Fragen zum finnischen Schulsystem – dachte ich mir, könnte ich die ja auch mal eine nach der anderen hier beantworten.
Natürlich völlig unobjektiv auf meiner Erfahrung mit drei Grundschulkindern, die derzeit die Klassen 1, 3 und 5 besuchen, basierend.

Wie ist in finnischen Schulen individuelles Lernen organisiert?

Das wichtigste Pisastudienergebnis überhaupt ist für mich ja, dass in Finnland der Lernerfolg fast gar nicht vom sozialen Hintergrund abhängt: nicht von der Herkunft der Eltern, nicht vom finanziellen Status der Eltern, nicht vom Ausbildungsstand oder Beruf der Eltern. Alle haben die gleichen Chancen.

(Theoretisch. Rein praktisch werden auch hier die Unterschiede langsam grösser. Aber sehr langsam eben. Und als Migrantenkind hat man immer noch das grosse Los gezogen, darf man in Finnland zur Schule gehen.)

Keiner ist was Besseres als der Andere. Kein Kind bekommt schon in den allerersten Schuljahren einen Stempel aufgedrückt, ob es später mal Abitur machen wird oder nicht. Alle bekommen von der Schule die gleichen Lernmaterialien – nicht nur Lehrbücher, sondern auch Hefte, Stifte, Malsachen – kostenlos zur Verfügung gestellt. Alle gehen bis zum Ende der 9. Klasse gemeinsam zur Schule.

Chancengleichheit. Keine Gleichmacherei.

In finnischen Schulen wird sehr darauf geachtet, dass jedes Kind auf seinem individuellen Niveau gefördert und gefordert wird.

Für die Kinder, die schon weiter sind, gibt es Extraaufgaben: die beiden Herren Maus hatten z.B. in der ersten Klasse eine Fibel wie alle anderen, bekamen aber von Anfang an ausserdem Kopien mit ganzen Texten, da sie schon in der Vorschule lesen gelernt hatten. Das Fräulein Maus berichtete mir von einem Klassenkameraden, der letztes Frühjahr – also im zweiten Halbjahr der 4. Klasse – schon das Mathebuch der 5. Klasse anfangen durfte, weil er mit dem der 4. Klasse durch war.
Für die Kinder dagegen, die nicht im normalen Tempo mitkommen, gibt es Förderunterricht: ein, zwei Stunden pro Woche, die die jeweiligen Kinder aber immer nur bei Bedarf besuchen – wenn die Sache sitzt, dann brauchen sie nicht mehr zu kommen; andersherum kann ein Kind auch von sich aus zum Förderunterricht gehen, wenn es zum Beispiel vor einer Klassenarbeit noch ein paar Extraaufgaben lösen will oder etwas nochmal genauer erklärt haben möchte.

Das Ganze funktioniert natürlich auch nur so gut, weil hier immer genug Lehrer da sind. (Es gibt auch nie (!) Stundenausfall, wenn ein Lehrer krank, auf Reisen oder zur Weiterbildung ist).
In unserer „Dorfschule“ mit nur 1. und 2. Klasse gibt es zwei Klassen – jeweils zur Hälfte aus Erstklässlern und zur Hälfte aus Zweitklässlern bestehend – mit insgesamt drei Lehrerinnen. Da kann man natürlich prima in Gruppen arbeiten.
Ausserdem gibt es noch zusätzliche Lehrer, die eigentlich nur für die Kinder da sind, deren Muttersprache nicht Finnisch ist. Diese Kinder haben – je nach Bedarf – eine bis alle Finnischstunden pro Woche in kleiner Gruppe bei einem Lehrer für „Finnisch als Zweitsprache“. (Das Fräulein Maus wurde in der 3. Klasse offiziell von „Finnisch als Zweitsprache“ zu „Muttersprache“ umgestuft – nicht ohne uns vorher um unser Einverständnis zu bitten, verbunden mit der Aufklärung darüber, dass sie dann auch wie ein Muttersprachler bewertet werden wird.) Und es gibt sogar Lehrer für Unterricht in der eigenen Sprache: das ist in unserer Schule z.B. ein arabischsprachiger Lehrer, der mit den Migrantenkindern, die noch nicht so gut Finnisch können, den ganz normalen Unterrichtsstoff, z.B. Mathe, nochmal auf Arabisch durchgeht.

Dieses System kommt übrigens – wenig überraschend – völlig ohne das Überspringen von Schulklassen oder Kann-Kinder, die mit fünf eingeschult werden, weil sie sich schon im Kindergarten langweilen, sowie ADHS- oder Hochbegabungsdiagnosen aus.

***

Wollsocken im Klassenzimmer (1): Hausaufgaben

7 Kommentare zu “Wollsocken im Klassenzimmer (2)

  1. Das würde ich mir auch soooo sehr wünschen, ganz eigennützig und auch ganz allgemein … aber das klappt hier nur in Grundschuls-Glücksfällen … später dann eh nicht mehr …

  2. Hier in Schweden fast genauso und ich finde es auch richtig so. Du nennst viele der Gründe, warum wir uns gegen die hier ansässige Deutsche Schule entschieden haben. Im Moment bin ich sehr erstaunt darüber, wie selbständig die Kinder eigentlich schon ab der 4. Klasse sind (mein ältestes) und wie normal das hier ist. Womit ich allerdings Schwierigkeiten habe ist der permanente Mangel an klarer Rückmeldung (Rechtschreibfehler nicht korrigiert, Korrektur nicht erforderlich, kein Kommentar zum Geschichtstest, keine Nachbesserung beim Vokabeltest, usw.), insbesondere wenn ein Schüler eben nicht ganz so stark ist in einem Fach. Da bin ich einfach sehr deutsch. ;) Ich denke, dass braucht es, um genau zu wissen, wie man seine Schwierigkeiten überwindet, aber vielleicht liege ich da auch einfach falsch und es funktioniert so auch. Ungewohnt ist es aber auf alle Fälle.

    • Hm, hab‘ ich noch gar nicht so drüber nachgedacht… Also Fehler angestrichen werden hier schon – aber wenn ich jetzt so genau drüber nachdenke, dann mussten wir früher nach jeder Klassenarbeit noch eine Berichtigung schreiben, wenn wir was falsch gemacht hatten, und das gibt’s hier tatsächlich nicht.

  3. Bei Dir klingt das immer alles so schön harmonisch und gelassen…
    Man guckt schon ein bisschen neidisch nach Finnland ;-)

  4. Ganz ohne ADHS Diagnose kommt man hier nicht aus, ganz so rosig ist es doch nicht. Mein Sohn hat eine ADHS Diagnose, und er besucht eine spezielle Klasse, in der selben Schule allerdings in der er sowieso besuche würde. In seiner Klasse sind 5 Schüler, ein Lehrer und eine oder zwei Assistenten, je nach Unterricht. Jeder geht da voran im eigenen Tempo, das Klassenzimmer ist individuell eingerichtet mit Trennwänden für etwas feurige Charakter die schon mal durch Frustration andere Mitschüler angreifen (die Trennwände helfen die Schüler von einander zu trennen damit der Lehrer einspringen kann bevor es zu Handgreiflichkeiten kommt).
    Ich bin sehr zufrieden mit der individuellen Förderung meines Kindes, dessen Lernprozess eben nicht wie gewöhnlich abläuft (er kann in der 4.Klasse immer noch nicht richtig lesen, spricht aber 4 Sprachen fliessend).

    • Ja, ich hätte vielleicht eher „ohne unnötige ADHS-Diagnosen“ schreiben sollen. Denn ich glaube, dass oft einfach aus Hilflosigkeit so eine Diagnose getroffen wird. (Und dann?! Hat das Kind einen Stempel. Hilfe aber noch lange nicht.)

      Aber ansonsten bekräftigen deine Erfahrungen mit einem „echten“ ADHS- Kind ja nur, was ich schon schrieb.

      Haben es nicht einfach alle Kinder, egal wie sie sind, furchtbar gut hier in der Schule?! :-)

Hinterlasse einen Kommentar