Suomalainen Päiväkirja

Live aus Turku


6 Kommentare

Neues Schuljahr

In der Ukraine hat diese Woche, am 1. September wie in allen ehemaligen Ostblockstaaten, die Schule wieder angefangen. Wenn, so las ich neulich, die Schule einen Luftschutzraum hat und ein Konzept, wie, in welcher Reihenfolge und mit wem im Falle des Falles die Kinder dahin gelangen.

Kann man sich nicht ausdenken.

Wenn die Schule keinen Luftschutzraum hat, wird es weiterhin Fernunterricht geben. Wenn der Schutzraum nicht für alle Schüler*innen reicht, muss entweder in Schichten unterrichtet oder priorisiert werden: dann dürfen nur die Kleinsten in die Schule kommen und die Grösseren machen Fernunterricht. Und dann gibt es natürlich noch die Eltern, die ihre Kinder unter diesen Umständen sowieso lieber nicht in die Schule schicken möchten.

(Kommt einem ja alles irgendwie bekannt vor.)

Auch für die ins Ausland geflüchteten Schüler*innen gibt es weiterhin Fernunterricht, als Ersatz oder zusätzlich zur dortigen Schule, und ich finde es wirklich bemerkenswert, dass in einem Land, das wir Deutschen bis vor Kurzem eher von oben herab betrachtet haben, in einem Land, in dem Krieg herrscht, der Fernunterricht scheinbar besser organisiert ist und besser funktioniert als es in vielen Schulen Deutschlands während Corona der Fall war.

***

Wir sind schon dreieinhalb Wochen drin im neuen Schuljahr.

Am Freitag kam das Fräulein Maus mit lauter bunten Aufklebern im Gesicht aus der Schule. Die Abiturient*innen hatten den Tag, von dem an sie nur noch 100 Tage Schule haben, mit der ganzen Schule gefeiert. Die Zahl der wunderlichen finnischen Traditionen ist schier unendlich.


Hinterlasse einen Kommentar

neljäsataaviisikymmentäviisi, neljäsataaviisikymmentäkuusi

Die 455 stand dann am Montagvormittag, als ich auf Arbeit fuhr, wieder auf ihrem Platz, und am Mittwoch, als wir mit den Hortkindern auf dem Weg von der Schule zum Hort an der Ampel an der Bibliothek standen, fuhr eine 456 vorbei.

***

Auch in der letzten Schulwoche vor den Sommerferien ist es in diesem Jahr noch kein bisschen sommerlich. Am Mittwoch brauchte ich Handschuhe zum Radfahren! Das Schlimmste aber ist der Wind. Seit drei Monaten stürmt es in dieser Stadt. Selbst wenn die Sonne scheint und die Lufttemperatur ok ist, ist es deshalb kalt. Und mindestens einmal am Tag muss man auf dem Fahrrad gegen den Wind ankämpfen. Ich will keinen Wind mehr! Und keinen Klimawandel!

***

Apropos Dinge, die in Turku undenkbar wären: alle Strassenbahnen in Tampere fahren seit März oder April mit einer Friedenstaube in ukrainischen Farben. Mal ganz davon abgesehen, dass Turku eine Tiefgarage bauen liess, während Tampere in eine Strassenbahn investierte, hat sich Turku in den ersten Kriegswochen vor allem im Umgang mit friedlichen Protesten vor dem russischen Konsulat nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

Schön: Der finnische Verlag Tammi hat die ersten drei Bände von Timo Parvelas „Ella“-Büchern kostenlos als Sammelband auf Ukrainisch drucken lassen und verschenkt ihn an alle ukrainischen Flüchtlingskinder im Schulalter.

[1-3, 4, 5, 6, 7, 8, 9-10, 11, 12, 13, 14, 15, 16-17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32-35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59-61, 62, 63, 64, 65, 66, 67-68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107-108, 109, 110, 111, 112-113, 114, 115, 116-117, 118, 119, 120, 121, 122-123, 124-130, 131, 132, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139-140, 141, 142, 143, 144, 145, 146-147, 148-149, 150, 151, 152, 153-155, 156, 157, 158, 159-160, 161, 162, 163-164, 165, 166-167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197-198, 199, 200, 201, 202, 203, 204, 205-206, 207-208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215-216, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224-225, 226, 227, 228, 229-230, 231, 232, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243, 244, 245,246, 247, 248, 249-250, 251, 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268-269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278-279, 280-281, 282, 283, 284-285, 286, 287, 288, 289-290, 291, 292, 293-294, 295, 296, 297-298, 299, 300, 301, 302-303, 304, 305, 306, 307, 308, 309, 310-311, 312, 313, 314-315, 316, 317-318, 319, 320, 321-322, 323, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331-332, 333, 334, 335, 336-337, 338, 339, 340, 341, 342, 343-344, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 352, 353-355, 356, 357, 358, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 365, 366-367, 368, 369, 370, 371, 372, 373, 374-375, 376, 377-378, 379, 380-381, 382, 383, 384, 385, 386-387, 388-389, 390, 391-393, 394, 395, 396-397, 398-399, 400, 401, 402-403, 404, 405, 406-408, 409, 410-411, 412, 413, 414, 415, 416, 417, 418, 419, 420, 421, 422, 423-424, 425, 426, 427, 428, 429, 430, 431, 432-434, 435-436, 437-440, 441, 442-443, 444, 445, 446-447, 448, 449, 450-451, 452, 453], 454]


2 Kommentare

Apropos lieb Heimatland…

Der Rowohlt-Verlag hat mir nach zwei Wochen auf meine Anfrage, ob sie denn ebenfalls vorhaben, den Erlös aus dem Verkauf des Maja-Buchs zu spenden, geantwortet:

„Die Verlagsgruppe von Holtzbrinck, zu der auch der Rowohlt Verlag gehört, hat bereits im März zur Unterstützung der Ukraine größere Beträge u. a. an das UN-Flüchtlingshilfwerk, das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe sowie die Malteser International gespendet. Aus diesem Grunde wurde entschieden, sich hier nicht noch zusätzlich zu engagieren.“

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das ärgert, dass da jetzt mit einem ukrainischen Kinderbuch Profit gemacht werden soll – das Buch ist 2017 in der Ukraine erschienen, das hätte man längst übersetzen lassen und auf Deutsch veröffentlichen können; aber wen hat bis vor drei Monaten irgendwas aus irgendeinem ehemaligen Ostblockstaat interessiert…?! – und nichts davon abgegeben werden soll.

(Ich hätte es, genau wie die finnische Ausgabe, gekauft. Aber so nicht. Wozu haben wir eine Bibliothek?!)


Ein Kommentar

12. Mai

14 Jahre…!

***

Sanna und Sauli haben gesprochen: Finnland wird schnellstmöglich der NATO beitreten.

Die liebste Freundin hat dazu Anfang der Woche schon alles gesagt:
„Politische Lage: Womöglich wird Finnland schon bald der Nato beitreten. Allein die momentane Diskussion darüber wäre noch vor einem halben Jahr undenkbar gewesen. Aber wenn man sich eine über 1000 km lange Grenze mit Russland teilt und mit der Vergangenheit vertraut ist, sieht man den Krieg in der Ukraine auch noch mal aus einer anderen Perspektive. Angst und Sorgen sind hier durchaus präsent und ich kann den Wunsch vieler Finnen gut verstehen jetzt doch der Nato beitreten zu wollen. Auch wenn ich es schade finde, denn ich war immer stolz auf die Neutralität Finnlands und seine Rolle als Vermittler. Aber was will man machen wenn der Nachbar wahnsinnig geworden ist?“

***

Keines der Hortkinder hat das Einhorn auf meinem T-Shirt kommentiert. Tse.

***

Das Fräulein Maus war zur 9.-Klasse-Vorsorgeuntersuchung bei der Schulschwester. Weil das die letzte ist, bevor die Jugendlichen entweder auf die Berufsschule oder ans Gymnasium wechseln, bekam das Fräulein Maus einen Stapel Zettel mit nach Hause: nicht nur die Ergebnisse der aktuellen Untersuchung, sondern auch eine Auflistung aller Impfungen, die sie bisher in ihrem Leben bekommen hat, ihre Wachstumskurven von Geburt an sowie die schriftlichen Aufgaben aus der Neuvola. Ich habe laut und lange vor Entzücken gequietscht.


3 Kommentare

Nördlich vom Weltuntergang

In Deutschland so:

„Sonnenblumenöl noch teurer – so weit steigt der Preis“
„Aldi Süd: Preis für neue Marke Sonnenblumenöl sorgt für Entsetzen“
„Lidl-Filiale stoppt Verkauf von Sonnenblumenöl an Minderjährige“
„Edeka lehnt teure Öl-Preise ab: Filiale verkauft Sonnenblumenöl nicht“

In Finnland so:

(Ich lebe wirklich sehr gerne in einem Land, in dem nicht alle immer gleich durchdrehen.)


2 Kommentare

Vorlesen für Frieden und Toleranz

Gestern – die Lehrer*innen streiken zur Zeit eine ganze Woche, aber sowas bringt uns nach zweimonatiger Schulschliessung ja nicht mehr aus der Ruhe – hatte ich Zeit, den kleinen Herrn Maus mit dem Fahrrad in die Musikschule zu begleiten. Wir fuhren einen Umweg und holten noch ein bestelltes Buch ab.

Obwohl ich ja eigentlich fast nie Bücher kaufe.

Die ukrainische Schriftstellerin und Menschenrechtsaktivistin Larysa Denysenko hat 2017 ein herzerwärmendes Kinderbuch geschrieben: Maja aus Kiew erzählt von den 17 Kindern ihrer Klasse. Maja selbst hat zwei Mütter. Tymko lebt abwechselnd bei seinem Vater und seiner Mutter. Krystyna lebt bei ihrer Grossmutter, weil ihre Eltern im Ausland arbeiten. Sofia und Solomia sind Retortenzwillinge. Aksana ist in Kiew geboren, aber Weissrussin. Petro ist Roma und hat eine riesige Familie. Sofiika ist 2014 mit ihrer Mutter aus Luhansk geflohen und hat ihren Vater im Krieg verloren. Levko wurde adoptiert. Ein wunderbar unaufgeregtes und wichtiges Buch über Vielfältigkeit, Toleranz und Freundschaft.

Ich hätte mir manchmal die Kapitel ein bisschen länger und ausführlicher gewünscht, dafür aber sind sie wunderbar von der ebenfalls ukrainischen Künstlerin Marija Foja illustriert.

Aus aktuellem Anlass ist das Buch letzten Monat auf Finnisch erschienen – der Verlag spendet den gesamten Erlös über UNICEF für ukrainische Kinder. Und deswegen war klar, dass ich das Buch entgegen meiner sonstigen Prinzipien kaufen wollte.

Im Herbst wird es auch eine deutsche Ausgabe geben. „Alle meine Freunde“ erscheint am 13. September. Ich weiss jetzt schon, was die Hortkinder vorgelesen bekommen werden im nächsten Schuljahr!

(Und hoffe inständig, obwohl davon bisher keine Rede ist, dass der deutsche Verlag dem Vorbild der Verlage in Finnland, Schweden, Polen und Grossbritannien folgen und den Erlös ebenfalls spenden wird!) *

* Update 19.5.:
Wird er nicht. Auf meine diesbezügliche Nachfrage bekam ich zur Antwort: „Die Verlagsgruppe von Holtzbrinck, zu der auch der Rowohlt Verlag gehört, hat bereits im März zur Unterstützung der Ukraine größere Beträge u. a. an das UN-Flüchtlingshilfwerk, das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe sowie die Malteser International gespendet. Aus diesem Grunde wurde entschieden, sich hier nicht noch zusätzlich zu engagieren.“ Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mich das ärgert, dass da jetzt mit einem ukrainischen Kinderbuch Profit gemacht werden – das Buch ist 2017 in der Ukraine erschienen, das hätte man ja auch schon längst übersetzen lassen und veröffentlichen können; aber wen hat bis vor drei Monaten irgendwas aus irgendeinem ehemaligen Ostblockstaat interessiert…?! – und nichts davon abgegeben werden soll.


3 Kommentare

Begegnungen, 2022

Neulich lief mir im Stadtzentrum meine ukrainische Finnischkurskollegin Olga über den Weg. „Karen“, rief sie aus, „eine Million Jahre haben wir uns nicht gesehen!“ Stimmt. Ihr grosser Sohn, der damals, als wir den Finnischkurs anfingen, gerade in die Schule gekommen war, hat inzwischen Abitur. Ihre kleine Tochter, mit der sie bei unserem letzten Treffen schwanger war, geht schon in die zweite Klasse.

Das „Wie geht es dir?“ bleibt uns im Hals stecken. Wie soll es gehen, wenn in Europa Krieg ist und eine von uns beiden unmittelbar davon betroffen ist?! Sie starrt auf meinen Peace-Anstecker in ukrainischen Farben neben den beiden Impf-Ansteckern auf meinem Horttantenumhängetäschchen. „Du erforschst immer noch Mäuse und Eichhörnchen?“, fragt sie. „Ach wo, schon seit einer Million Jahren nicht mehr!“, sage ich, und dann frage ich sie, wie ihr ihr neuer Job denn gefalle, denn sie arbeitet als Angestellte der Stadt Turku seit Neuestem nicht mehr in der Touristeninformation, sondern berät ukrainische Geflüchtete. „Ich bin so froh, dass deine Eltern bei dir in Finnland und in Sicherheit sind“, sage ich zu ihr, denn die meisten von uns, die damals gemeinsam im Finnischkurs sassen, treffen sich mindestens noch in verschiedenen sozialen Netzwerken und wissen daher in groben Zügen, was im Leben der Anderen gerade passiert. Sie erzählt mir, dass ihre Eltern eine Woche vor Kriegsausbruch gekommen sind, weil ihr finnischer Mann, der sich sicher war, dass es Krieg geben würde, darauf bestanden hat, dass jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, dass sie mal wieder zu Besuch kämen. „Steht ihr Haus noch?“, frage ich und denke, was für eine absurde Frage. Wir schweigen kurz. „Aber die Deutschen tun so viel für die Ukraine!“, sagt sie, und ich möchte im Boden versinken. „Ich wünschte, den Deutschen wäre es wichtiger, den Krieg nicht mehr mit Gas- und Ölkäufen mitzufinanzieren, statt immer jammernd ihre Wirtschaft vorzuschieben“, sage ich, „zumal es ja auch eine einmalige Chance für den Klimaschutz wäre.“ Von dem Rumgeeiere wegen Waffenlieferungen ganz zu schweigen. So sehr ich selbst eigentlich dagegen bin und mir eine Welt ohne Waffen, ohne Drohungen, ohne Angst wünschte – wie weit kommt man mit Pazifismus, wenn ein alter machtgeiler Mann durchdreht und nicht genug bekommen kann? Für die Finnen ist die Sache einfach: denen steckt der Winterkrieg noch immer in den Knochen, die wissen, wie es sich anfühlt, was auf dem Spiel steht.

Ich wünschte, Geschichte würde sich nicht immer wiederholen.

Zwei Wochen vor Kriegsausbruch hatte ich mich mit meinem russischen Finnischkurskollegen Kirill getroffen. Die Sache, wegen der wir verabredet sind, ist schnell erledigt. Aber wir haben uns lange nicht gesehen und viel zu bereden: wie es uns geht und ergangen ist in den letzten Jahren in unserer gemeinsamen Wahlheimat.

Diesmal erzählen wir uns hauptsächlich kopfschüttelnd Anekdoten über den finnischen Umgang mit Alkohol. Sein Sohn ist so alt wie der grosse Herr Maus, und ab der siebenten Klasse gehören zum unvermeidlichen Fragebogen, der bei Vorsorgeuntersuchungen bei der Schulschwester auszufüllen ist, auch erste Fragen zum Alkohol- und Drogenkonsum. „Bei der Frage, ob er schon mal Alkohol probiert habe, hat er Ja angekreuzt, und daraufhin wurden seine Mutter und ich direkt in die Schule vorgeladen. Aber naja, er hat mich gefragt, wie Wodka schmeckt, und natürlich habe ich ihn probieren lassen. Probieren im Sinne von mal nippen natürlich, und er weiss jetzt, dass ihm Wodka nicht schmeckt, und das ist doch viel besser als wenn er es heimlich mit Freunden ausprobiert und sich direkt besäuft!“ Ich stimme ihm heftig nickend zu. Unsere Kinder haben inzwischen gelernt, diese Fragebögen „korrekt“ zu beantworten. Früher logen sie Zahnärzt*innen auch schon mal direkt ins Gesicht: „Natürlich haben wir einen Karkkipäivä!“, heute erklären sie Schulschwestern selbstbewusst: „Natürlich trinken meine Eltern ab und zu Alkohol. Aber ich habe sie noch nie, wirklich noch nie betrunken erlebt“, wobei sie das „Und jetzt erzähl‘ mir, wie viele finnische Kinder das von ihren Eltern behaupten können!“ diplomatisch runterschlucken.

Aber natürlich landet auch unser Gespräch schnell bei den an der Grenze zur Ukraine aufgefahrenen Panzern. Beim gegenseitigen Säbelrasseln. Wir sind beide im Kalten Krieg aufgewachsen, und wie sehr hatten wir gehofft, wie sehr hatten wir uns nicht vorstellen können, so etwas je wieder erleben zu müssen: das Wettrüsten, die Drohungen mit Atomwaffen, die volksverdummende Propaganda.

(Noch schlimmer als die zerbombten Städte, die vielen Toten und die an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübten Gräueltaten ist für mich an diesem Krieg die unglaublich perfide Rhetorik, mit der das alles gerechtfertigt werden soll: all die plumpen Lügen und Drohungen, all die verdrehten Wahrheiten, wie sie meine ganze Kindheit lang offiziell verbreitet wurden. Die Aussage des von den russischen Besatzern eingesetzten Bürgermeisters von Mariupol vor ein paar Tagen, in die Stadt werde jetzt wieder friedliches Leben einziehen, die Bewohner könnten zurückkommen und anfangen, ihre Vorgärten (Welche Vorgärten?!) aufzuräumen und Scheiben in ihre Fenster (Welche Fenster?!) einzusetzen, ist das vielleicht Nebensächlichste, aber für mich Zynischste, das diese monströse Propagandamaschine bisher ausgespuckt hat.)

Fast amüsiert es uns, dass sich seit unserer Kindheit die Fronten verschoben haben; dass wir damals offiziell auf der gleichen Seite standen, heute eine*r von uns, je nachdem, wessen Reden man Glauben schenkt, unweigerlich auf der bösen gegnerischen.

„Ich schäme mich, Russe zu sein“, hat Kirill zwei Wochen vor Kriegsausbruch gesagt. „Und ich kenne auch keinen Russen, der Putins Politik gut findet. Aber gut, die Russen, die ich kenne, leben auch nicht mehr in Russland“, hat er lachend hinzugesetzt. Dann haben wir geseufzt, uns zum Abschied umarmt und das Beste gehofft.


10 Kommentare

Hoffnungen, zerbombte

Einer unserer nächsten, noch etwas vagen, aber schon fest anvisierten Reisepläne war übrigens, nach Kiew zu fahren, sobald die Pandemie vorbei wäre und die ukrainische Bahn wieder nach Riga fahren würde. Der Gedanke, dass von der Stadt in ein paar Tagen vielleicht nicht mehr viel übrig sein wird, ist schwer auszuhalten.

Ein weiterer Plan war, sobald unser Impfstatus und die Coronazahlen es zulassen würden – und die Touristenströme aus Asien noch nicht wieder eingesetzt hätten – endlich nach St. Petersburg zu fahren; dank e-Visum und direkter Zugverbindung von Helsinki kein grosses Ding. Inzwischen fährt der „Allegro“ nur noch, um Russ*innen einen Fluchtweg offenzuhalten.

***

Presseschau.

Kaj Stenvall, dessen Entenbilder uns begleiten, seit wir in Finnland angekommen sind, malt jetzt Putin.


13 Kommentare

Kleine weisse Friedenstaube…

Gestern Nachmittag haben wir mit den Hortkindern Friedenstauben für unser grosses Fenster zur Strasse hin gebastelt.

Es war mir eine Herzensangelegenheit, und die beste Chefin konnte sich dazu durchringen, es unpolitisch genug zu finden.

Kinder sind offiziell aus allem herauszuhalten, niemandem darf auf die Füsse getreten werden – und das könnte ja schliesslich passieren, wenn man eine Spendenaktion startete, wenn man eine ukrainische Flagge malte, wenn man die Schulkinder einer ganzen Schule zu einem Peace-Zeichen auf dem Sportplatz aufstellte, wenn man öfter als nur einmal am Montagmorgen nach den Ferien über den Krieg redete. Das russische Konsulat neben unserem Spielplatz wird neuerdings rund um die Uhr von Polizei bewacht, und wenn die Kinder fragen, warum die da sind, dann sage ich ihnen: „Es gibt jetzt viele Menschen, die wütend auf Russland sind, und die kommen dann vielleicht her und schmeissen Steine oder tun irgendwas ähnliches, was auch nicht in Ordnung ist, denn die Leute, die da arbeiten, können ja auch nichts für den Krieg“, aber die beste Chefin sagt ihnen: „Die gehen stehen da Streife.“

Und dann kommen die Eltern abholen und die beste Chefin erklärt vorsichtig, wir hätten heute Vögel gebastelt, Friedenstauben, aber man könne die natürlich auch als zurückkehrende Zugvögel sehen, wenn einem das lieber wäre, und dann sagt ein Vater: „Friedenstauben?! Da hättet ihr mal besser Panzer gebastelt!“, und alle hier schreien auf einmal laut nach Nato-Beitritt, und die Friedenstauben scheinen noch viel nötiger zu sein, als man sich vorstellen kann.