Man hat’s nicht leicht als finnisches Schulkind. Zwei Tage Herbstferien…!
Wir hatten trotzdem prima Ferien: mit einer richtigen Schiffsreise, mit Sandbuddeln und Wandern, mit Meer und Wald, mit Sonne und Hagelschauern.
Das Fräulein Maus durfte eine Stunde eher aus der Schule gehen. Die beiden Herren Maus waren Mittagskinder. Im Sonnenuntergang kamen wir in Tallinn an.
Bis die bis auf den allerletzten Platz ausgebuchte Fähre leer war, war es draussen stockfinster. Als wir die letzten Lichter der Stadt hinter uns gelassen hatten, begleitete uns der Mond neben der Autobahn. Die Mäusekinder zählten Sterne. Ich erfreute mich an weissen Elchwarnschildern und den Wegweisern für Blitzmerker. So Kleinigkeiten, die ein anderes Land so besonders machen.
(Wie man bei zugelassenen 110 km/h auf der Autobahn unfallfrei erfassen soll, wo und wie man wohin an der Ausfahrt abbiegen muss, ist mir ja ein Rätsel…)
Wir verliessen die Autobahn an einer weniger spektakulären Abfahrt (aber mit nicht weniger Ortsangaben – die sich dann allesamt als Ansammlung von maximal fünf Häusern entpuppten). Die vollkommen dunkle, schmale Strasse wand sich durch einen undurchdringlichen nächtlichen Märchenwald, der so dicht an die Strasse heranwuchs, dass einmal sogar ein kleines, reflektierendes, rot-weisses Schildchen vor einem knorrigen Kiefernast, der über die Strasse ragte, warnte. Ein Fuchs lief elegant über die Strasse, ein Reh kehrte wieder um, mehrere funkelnde Augen verfolgten uns aus dem Unterholz am Strassenrand. Dann wieder führte die Strasse über mondbeschienene Felder, auf denen sich Kühe zusammendrängten. Ich wusste gleich, dass wir uns mit dem ersten Nationalpark der Sowjetunion für das richtige Reiseziel entschlossen hatten.
Am ersten Tag besuchten wir das Meer. Das gleiche Meer, das doch so ganz anders aussieht als bei uns. Und allüberall finnische Findlinge!
Am zweiten Tag besuchten wir die Biber. Das nämlich hatte den Ausschlag gegeben für den Nationalpark: dass es dort jede Menge Rundwanderwege gibt. Der Biberlehrpfad ist ein ganz besonders liebevoll angelegter, der tatsächlich an mehreren Biberdeichen und benagten Bäumen vorbeiführt. Der grosse Herr Maus behauptete sogar, er habe eine Biberpfote gesehen, und wollte unbedingt warten, bis er einen ganzen, echten Biber gesehen hätte. Leider regnete es in Strömen, und das Fräulein Maus, das mir im Frühling die lustigen Krokodilgummistiefel abgetrotzt hatte, hatte nasse Füsse, weil ebenjene Gummistiefel nach nur ein paar Monaten an der Sohle durchgelaufen waren. (Unser erster Weg zu Hause führte in den grossen Supermarkt, ordentliche Nokia-Gummistiefel kaufen. Solche, die das Fräulein Maus und der grosse Herr Maus schon jeweils zwei Jahre getragen haben, und die der kleine Herr Maus jetzt immer noch mit wunderbar trockenen und warmen Füssen trägt.)
Am dritten Tag fuhren wir ans andere Ende des Nationalparks. Über winzige Strassen, vorbei an immer nur einzelnen Häuschen – oft grüne oder dunkelgelbe Holzhäuschen, die mich immer an „Timur und sein Trupp“ erinnern. Vorbei an verfallenen Ställen und Fabrikruinen, vorbei an prunkvollen Landgütern. Und überall Storchennester: auf Schornsteinen, auf Strommasten. Da wäre ich gern mal im Sommer. Als wir noch eine Kleinststadt mit trostlosen Plattenbauten, aber einem supermodernen, riesigen Spielplatz passiert hatten, waren wir am Ausgangspunkt unserer ausgewählten Wanderroute: zum sieben Meter hohen drittgrössten Findling Estlands (die beiden grösseren liegen vor der Küste im Meer rum). Es fing dann auch gleich erstmal an zu hageln. Der Weg schlängelte sich sieben Kilometer durch hohe Fichten mit Flechtenbartzotteln an den Ästen, durch Moor, über eine lange, mit Rentierflechte bewachsene Düne, durch Birkenwäldchen und an einem Bach entlang. Von einem Aussichtsturm sahen wir bis zum fernen Tallinn. „Ob man auf den Findling auch draufklettern kann?“ hatte das Fräulein Maus vorher gefragt. „Ich glaube nicht. Den kann man sich bestimmt nur von unten angucken. Sieben Meter sind ja ganz schön hoch, da kann man nicht einfach so hochklettern“, hatte ich ihr geantwortet. Und dann entdeckte sie die Leiter als erste: „Da kann man ja doch draufklettern!“ Das war das Allerbeste.
Wir assen leckere Sachen, und die Kinder freuten sich über die Spielzimmer oder wenigstens Spielecken in jedem Restaurant. (Über das deutsche Restaurant, in das es uns zufällig verschlagen hat, und das wir aus verschiedenen Gründen schnellstmöglich wieder verliessen, sage ich jetzt besser nichts…)
Am vierten Tag kauften wir im Supermarkt genug estnische Kekse, Bonbons, nostalgisch verpackte Schokolade, Käse und slowakische Käsenudeln für das nächste halbe Jahr die nächsten vier Wochen.
Dann betankten wir den Herrn Picasso mit preiswertem Benzin, fuhren zurück nach Tallinn, bestiegen eine völlig ausgebuchte Fähre, ärgerten uns ein wenig über bekloppte „Kreuzfahrer“… und als wir am blinkenden Leuchtturm von Suomenlinna vorbei in den Helsinkier Hafen einfuhren, habe ich mich schon ganz schrecklich auf die nächste Reise gevorfreut.
Dienstag, 22. Oktober 2013 um 22:30
haaach, was für wunderschöne Bilder wieder mal! und dabei gleich gelernt, dass es in Estland auch total schön ist. gleich noch ein Land auf der „will ich mal hin“-Liste!
klingt auf jeden Fall, als ob ihr eure „Herbstferien“ gut genutzt habt!
LG
sjoe
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 12:25
Das Lob wegen der Fotos gebe ich mal mindestens zur Hälfte an den Ähämann weiter. ;-)
Und ich mag Estland sehr, weil… weil es noch nicht so festgelegt ist. Irgendwie ist da noch alles im Aufbruch – Restauriertes neben Verfallenem, Modernes neben Altmodischem. Das mag ich sehr. Viel mehr als so „geleckte“ Urlaubsländer.
Dienstag, 22. Oktober 2013 um 23:04
Einfach zuuuu schön! So schön, dass ich – als bereits sehr lange stille Leserin und Finnland-Interessierte – unbedingt bei diesem Eesti-Artikel ein großes DANKE hinterlassen möchte!
Helen
Dienstag, 22. Oktober 2013 um 23:24
Welch schöner REisebericht. Und immer erinnern mich deine Berichte und Posts auch daran, dass ich vor einem Jahr in den Herbstferien in Turku war.
Herzliche Grüße aus dem warmen Süden
Ingrid
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 09:51
Tolle Fotos mal wieder! Ich mag das, wo die Kinder auf dem Baumstamm „abhängen“ *g* Auch der Findling sieht toll aus – in Deutschland gänge sowas wieder nur mit tüv-geprüfter Absperrung ;)
Viele Grüße
Vinni
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 10:42
Hihi! Genau DAS dachte ich auch als erstes…
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 11:09
Sehr tolle Bilder, wie immer. Und es klingt nach richtigem Herbstwetter. Hier sind 20°, viel zu warm…
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 11:22
Wir können gern tauschen! ;-)
(Vielleicht würde es dann hier heute auch nochmal hell…)
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 11:56
Oh, wie schön… Ich hätte gern noch Timur-und-sein-Trupp-Häuser gesehen.
Viele liebe Grüße, Dörthe
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 11:58
Ja, das habe ich irgendwie verpasst… und aus dem Auto fotografiert sich’s ja auch so schlecht. ;-)
Aber wir waren bestimmt nicht zum letzten Mal da…
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 12:22
Schön beschrieben und schöne Fotos. Das mit dem Abhängen gefällt mir auch besonders gut, aber auch der Rest ist Klasse (und wenn „gefällt mir“ nicht schon wieder zicken würde, würde ich klicken)
Haben die Rundwanderwege eigentlich (außer dem Findling) Zwischenziele oder wie motiviert ihr eure Kinder? Lauft ihr so vor euch hin? Sammelt ihr Steine oder Blätter oder was auch immer? Also ich als Erwachsene finde die Fotos toll und könnte mir jetzt sagen: „Da will ich auch mal hin“ , aber wie macht ihr das mit dem Nachwuchs (gerade mit dem Kleinsten)?
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 12:41
Meistens laufen wir tatsächlich nur so vor uns hin, üblicherweise bis zum nächsten Rastplatz. Am ersten gibt’s
BemmenBrote, am zweiten Kekse… so ähnlich. Wer dringend eine Waffel- oder Schokoladenrast zwischendurch braucht, bekommt die. Und wir gehen nur Wege, die Spass machen – keine autobahnbreiten, schnurgeraden, sondern möglichst schmale, über Planken, wo’s was zu klettern gibt etc. Das motiviert von ganz allein. :-) Wenn man in der Ferne schon den später zu besteigenden Aussichtsturm sieht, motiviert das natürlich noch ein bisschen mehr. ;-)Der grosse Herr Maus spielt ausserdem liebend gern „Pfadfinder“ für uns, im echten Wortsinn, und läuft vorneweg. Das Fräulein Maus muss manchmal ein paar hundert Meter auf Papas Schultern getragen werden, dann geht’s wieder. Der kleine Herr Maus läuft, so lange er kann und solange es ihm Spass macht, dann kommt er in die Trage. Prima ist, dass ich mit dem schweren kleinen Herrn Maus auf dem Rücken ungefähr genauso kaputt bin wie die grossen Mäusekinder. Diesen Herbst gingen jedenfalls sechs, sieben Kilometer ganz gut für uns alle.
Inzwischen fragen die Kinder schon selbst, ob wir nicht bald mal wieder wandern gehen. Alles eine Frage der Konditionierung… ;-)
Freitag, 25. Oktober 2013 um 11:35
OK, wir machen es letztlich ähnlich – uns fehlt nur ein bisschen die Erfahrung (weil es bis vor ’nem halben Jahr einfach körperlich nicht ging). Jetzt in den Herbstferien habe ich bedauert, mir nicht vorher ’ne vernünftige Karte besorgt und ein bisschen geplant zu haben – da sind wir dann etwas sehr spontan losgewandert und waren am Ende 6 km unterwegs.
Nur blöd, wenn das Töchterlein auf die Idee „Wenn wir dort ankommen, kannst du nochmal auf die Sommerrodelbahn.“ plötzlich „Nee. Mat-i-nich.“ antwortet (was glatt gelogen ist). Und da verbale Kommunikation ja nach wie vor eher schwierig ist, ist es dann manchmal mit den Motivationsmöglichkeiten etwas schwierig. Aber wir arbeiten dran. ;-)
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 12:44
Ich wollte in dem Zusammenhang übrigens schon lange mal auf einen Artikel von Frau… äh… Mutti verweisen: http://www.frau-mutti.de/eintrag/17113.html :-)
Freitag, 25. Oktober 2013 um 11:26
Den kenne ich natürlich. Bin ja bei Frau … äh … Mutti seit Jahr(zehnt)en treue Leserin ;)
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 12:38
Superschöne Bilder, die große Lust machen auf den hohen Norden – Regen hin oder her.
Lieber Gruß, Katja
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 14:56
Sind ja ganz schön viele Finnen in den Herbstferien in Estland unterwegs ;-)
(Ich habe gestern auch eine HerbstferienUrlaubskarte aus Estonia bekommen…)
Sieht auch so ein bisschen finnsch aus, finde ich.
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 15:16
Ganz schön viele Finnen aus Turku, meinst du, ja? Ganz schön viele deutsch sprechende Finnen aus Turku, ja? ;-)
Ich bin immer wieder erstaunt, wie ähnlich und wie doch so sehr anders Estland ist…
Mittwoch, 23. Oktober 2013 um 19:24
Oh, wir haben doch noch viel verpasst in Estland! Und der größte Findling Niedersachsens, über den ich neulich so stolz berichtet habe, sieht dagegen wie ein Kieselstein aus…
Viele Grüße, Lena
Freitag, 25. Oktober 2013 um 12:05
Ich hab‘ mich auch gleich nochmal durch euer Estland-Archiv gelesen – für die nächsten Herbstferien oder so. ;-)
Sonntag, 27. Oktober 2013 um 02:08
Nur 2 tage ferien! Als ich in der schule gegangen bin, waren die immer eine woche. Und sind noch, glaube ich, in kuopio wenigstens.
Sonntag, 27. Oktober 2013 um 11:35
Ja, die sind fast überall länger als in Turku… :-(
Mittwoch, 18. Oktober 2017 um 09:55
Wart Ihr in Käsmu?
Kommt mir bekannt vor.
War vor einem Jahr im Baltikum und habe nun den Traum, einige Tage in Käsmu das Meer, den Strand und die Findlinge zu geniessen.
Mittwoch, 18. Oktober 2017 um 10:45
Ja, unter anderem.